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Wer einmal lügt …

Geschrieben von Redaktion am . Veröffentlicht in Lokalnachrichten

heinrichpeuckmann KWHeinrich Peuckmann, Schriftsteller und Generalsekretär des PEN-ZENTRUM DEUTSCHLAND e.V.von Heinrich Peuckmann

Der Hirtenjunge langweilt sich und weil er will, dass etwas passiert, schreit er laut: „Wolf! Da ist ein Wolf!“ Die Dorfbewohner kommen angerannt, sehen keinen Wolf und merken, dass der Junge gelogen hat. Als kurz darauf aber wirklich der Wolf kommt und der Hirtenjunge wieder schreit, kommt ihm keiner zu Hilfe. Der Wolf frisst die Herde, nach manchen Darstellungen auch den Hirten selbst.

Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht. Es ist diese Fabel von Äsop, der im 5. Jhd. vor Christus lebte, aus der dieser berühmte Satz stammt. Und es klingt womöglich schon altmodisch, wenn ich sage, dass ich mit diesem Satz groß geworden bin, dass er immer noch für mich gilt. Bis heute. Ich könnte auch Mat. 5, 37 zitieren: Deine Rede sei ja ja, nein nein, was darüber ist, das ist von übel.

Stimmt, sage ich, obwohl es manchmal nicht so einfach ist, denn zwischen Ja und Nein gibt es Abstufungen, die berücksichtigt werden wollen, aber in der Grundausrichtung ist der Satz richtig und er leitet mich bis heute. Manchmal hätte ich auch gerne gelogen, es hätte mir manche Unannehmlichkeit erspart, aber es ist verflixt mit mir. Ich kann es nicht. Ausreden finden, jemandem die ganze Wahrheit verschweigen, um ihm nicht weh zu tun, das ja. Aber bewusst lügen, nein. Deshalb bin ich Leuten, die lügen, so hilflos ausgeliefert. Ich staune, mit welcher Skrupellosigkeit sie das können, ohne mit der Wimper zu zucken, so dass ich, obwohl ich weiß, dass sie lügen, plötzlich Zweifel bekomme. Sagen sie nicht doch die Wahrheit?

Für Kant war die Lüge der schlimmste Verstoß. Selbst wenn ich durch das Aussprechen der Wahrheit jemand anderen in Gefahr, vielleicht sogar zur Verurteilung zum Tode bringen würde, darf ich nicht lügen, so rigoros war Kant. Das hatte mit seinem Menschenbild zu tun. Das, was den Menschen ausmacht, ist die Kommunikation, und Lüge zerstört sie. Wo gelogen wird, ist keine Kommunikation mehr möglich, also auch kein Menschsein.

Ach Gott, denke ich, du bist old-fashioned, irgendwie aus der Zeit gefallen, denn es lügen ja auch Leute, denen ich, so habe ich das gelernt, mit Respekt begegnen sollte. Der amerikanische Präsident, immerhin einer der führenden Politiker dieser Welt, hat seit seiner Amtsübernahme über 1000mal nachweislich gelogen. Was soll ich von so einem Mann halten? Kann ich dem Respekt entgegenbringen? Es ist gut, dass ich kein Politiker bin, der mit ihm Gespräche führen muss wie Frau Merkel zum Beispiel. Ich glaube, ich würde es ihm sagen: lügst du jetzt gerade oder sagst du ausnahmsweise die Wahrheit? Ich weiß nicht, wie das ankommen würde. Lügner, habe ich gelernt, reagieren aggressiv, wenn sie bei ihren Lügen ertappt werden.

Nun haben wir ein neues Medium, das Internet, und da kann noch besser gelogen werden als es bisher möglich war, denn man muss demjenigen, den man belügt, ja nicht ins Auge schauen. Man macht es ganz anonym, man formuliert eine Lüge, schickt sie übers Internet in die Welt und taucht ab in die Dunkelheit. Es gibt in der Slowakei, las ich neulich, bezahlte Internetlügner, vermutlich von Moskau aus finanziert, die alles Mögliche behaupten, in die Welt setzen und auf diese Weise Menschen beeinflussen. Ganze Wahlen können durch diese Typen entschieden werden, vielleicht ist Trumps Wahl auch schon auf diese Weise entschieden worden. Auch auf die Wahlen in Deutschland sollen sie sich schon vorbereiten.

Aber es sind nicht nur Lügen, die verbreitet werden. Es werden auch Gerüchte gestreut, dieses oder jenes soll geplant werden oder passieren, vielleicht schon bald. Und die Leser dieser Gerüchte kriegen Angst und verlangen nach autoritären Lösungen. Nach dem starken Mann, also nach genau solchen Lösungen, die die Gerüchtestreuer, die die Demokratie bekämpfen, durchsetzen wollen. Es sind Verschwörungstheorien, die im Moment groß in Mode sind, denn davon gibt es jede Menge, vor allem seit dem Attentat auf die Twin-Towers am 9. September 2001.

Ein Brite behauptet allen Ernstes, dass sich heimlich unter uns Reptiloide befinden, verkappte Außerirdische, die die Macht übernehmen wollen. Er glaubt allen Ernstes daran, dass sie sich verstellen können, die Gestalt von normalen Menschen annehmen und uns dann hintergehen. Und viele andere glauben das mit ihm. Natürlich sind auch wieder die Juden im Spiel, Juden eignen sich offensichtlich immer für Schuldzuweisungen. Was die so alles heimlich gegen uns ins Werk setzen sollen, diese Juden, man glaubt es nicht. Unvorstellbar! Man denkt, nach dem schrecklichen Massenmord in der Nazizeit müsse der Antisemitismus ein für alle Mal erledigt sein, ist er aber nicht. Und die Verschwörungstheoretiker selbst, die wieder Juden übler Machenschaften bezichtigen, behaupten, sie seien gar keine Antisemiten. Sie sagen ja nicht, dass alle Menschen jüdischen Glaubens sich gegen uns verschworen haben, sondern nur einige. Wenn das kein Argument ist!

In Ungarn, um mal ein Beispiel zu bringen, sind nach Anweisung von Ministerpräsident Orban 250 Millionen Euro ausgegeben worden, 250 Millionen Dollar, einzig um den reichen Investementmanager George Soros zu diffamieren, der eine Uni in seinem alten Heimatland aufgebaut hat und Menschenrechtsorganisationen gründet, die für Demokratie eintreten und damit eine Politik unterstützen, die dem autoritären Stil von Orban entschieden widerspricht. Gleichzeitig wird in der Kampagne gegen Soros behauptet, das restliche Europa, also Frankreich, Deutschland usw. sei längst in der Hand solcher Leute wie Soros, die europäische Kultur sei schon völlig zerstört von all den Flüchtlingen und Europa sei damit dem Untergang geweiht. Einer wie Orban wäre also der Retter der ungarischen Kultur. Viele Ungarn glauben das, denn es wird ihnen in allen Medien, den Zeitungen und dem Internet, eingetrichtert. Soros ist übrigens, man ahnt es, Jude.

Verschwörungstheorien hat es immer schon gegeben. Sie sind ein Zeichen für Krisen, die die Menschen spüren, deren Ursachen sie aber nicht erklären können. Vor allem gibt es für sie keine einfachen Gründe. Sie erfordern komplizierte Deutungen, aber solche Erklärungen sind nicht das, was viele Leute hören wollen. Einfache Lösungen, einfache Zuordnungen von Schuldigen, das kommt an. Dieser oder jener Täter, die Asylbewerber zum Beispiel oder eben die Juden. Und dieses Denken füttern die Verschwörungstheoretiker. Man mag es nicht glauben, wie viele Menschen auf solche Scheinerklärungen reinfallen, wie sie ihr Handeln danach ausrichten, wie sie Flüchtlinge bedrohen, wie sie autoritäre Politiker wählen, wie sie Journalisten, die Aufklärungsarbeit leisten, beleidigen. Das alles bereitet mir große Sorgen. Die Lüge, die noch so blödsinnige Behauptung, die Halbwahrheit, sie haben Konjunktur und bedrohen unsere Freiheit, denn sie untergraben die Demokratie.

Kann es nicht sein, denke ich manchmal, dass Verschwörungstheorien auch deshalb so viel Erfolg haben, weil sie in eine Zeit fallen, in der die religiöse Option auf dem Rückzug ist? Dass sie eine säkularisierte Form des früheren religiösen Weltbildes sind? Da ist etwas über mir, das über mich waltet, dies ist doch unser religiöses Gefühl. In unserem christlichen Sinne ist es Gott, in dessen Händen unser Leben liegt. Aber an Gott glauben ja immer weniger, trotzdem bleibt ihr Gefühl vorhanden, es gibt da etwas über mir, das mein Leben beeinflusst. Nun ist es also nicht mehr Gott, sondern es sind irgendwelche (bösen) Mächte. Wie gesagt, ich überlege das. Vielleicht denken Sie diesen Gedanken weiter.

Was hilft? Es ist traurig, darüber nachzudenken, denn einfache Antworten, vor allem solche, die schnell wirken, gibt es nicht. Bildung hilft, ja Bildung hilft immer. Je mehr ich weiß, desto besser. Desto weniger bin ich gefährdet, auf Schwachsinn reinzufallen, einfach deshalb, weil ich ihn durchschaue. Aber da stellt sich die traurige Erkenntnis in den Weg, dass gerade solche Fächer, die uns ein Fundament geben, Entwicklungen zu durchschauen, an den Schulen eine immer geringere Rolle spielen. Geschichte ist wichtig, wer Ahnung von Geschichte hat, weiß, dass es dieses oder jenes schon mal gegeben hat und dass wir gut daran tun, alles zu unterlassen, was eine Wiederholung bewirken könnte. Aber was wissen die jungen Leute heute noch von Geschichte? Literatur, gute, lebensgesättigte Gedichte zum Beispiel, würden helfen. Aber wozu, wird gefragt, soll man die noch kennen? Ja, das wird tatsächlich diskutiert. Ausgerechnet eine Schülerin, altklug und beschränkt im Geiste, hat das vor ein paar Jahren verlangt und dabei nicht gewusst, was sie da tat. „Herr, vergib ihnen …“ Statt Gedichte zu interpretieren, wollte sie lieber über Steuererklärungen informiert werden, schrieb sie in großen Magazinen. Und es gibt noch eine weitere Einschränkung. Selbst gute, richtige Bildung schützt nicht vor allem. Ein alter Schulfreund, ein kluger Junge, meldete sich neulich per Mail bei mir, entwickelte die abstrusesten Ideen und ich merkte: er ist ein Verschwörungstheoretiker geworden. Eine Freundin aus gemeinsamer Schulzeit hatte sich schon von ihm losgesagt, schrieb er mir, ich habe auch nicht mehr geantwortet.

Trotzdem, Bildung bleibt wichtig. Und Aufklärung. Wir müssen die Wahrheit gegen die Lüge stellen, was anderes ist Aufklärung ja nicht. Wir müssen alle Möglichkeiten nutzen, Lügen zu entlarven. Jene, deren Lügengespinst sich inzwischen verfestigt hat, werden wir wohl nicht mehr erreichen, leider nicht, aber wir müssen verhindern, dass sie die Köpfe der anderen vernebeln und verwirren.

Und zu diesem Kampf passt ein anderes, sehr altes Bibelwort. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Wir kennen das achte Gebot. Aber was hieß es damals, zu alttestamentlicher Zeit? Es bedeutete, dass ich in einem Konflikt nicht die Persönlichkeit eines anderen beschädigen darf. Wenn sich nämlich damals zwei Menschen zusammentaten und über einen dritten eine falsche Behauptung in die Welt setzten, konnte dieser dritte verurteilt werden, vielleicht sogar zum Tode. Das sollte durch das achte Gebot verhindert werden, durch Lügen andere Menschen in Not bringen. Und genau das ist es, was wir heute im Internet erfahren. Politiker, Journalisten, Schriftsteller, werden herabgesetzt, es werden ihnen wer weiß was für Dinge unterstellt, sie werden zur Verurteilung frei gegeben, durch „falsches Zeugnis“ also, wie es die Bibel sagt.

Und hier zeigt sich nach Bildung und Aufklärung das dritte, was hilft. Ein humanes, ein aufgeklärtes, möglicherweise auch ein religiös geprägtes, bei uns also ein christliches Weltbild mit Werten, die noch welche sind, das hilft bestimmt. Ein Weltbild, das in dem anderen nicht den Feind sieht, der uns etwas wegnehmen will, sondern den Mitmenschen, der anders ist als wir, warum auch nicht, der aber immer eines bleibt: unser Nächster nämlich, mit dem wir zusammenleben können.

Eine dieser Werte ist deshalb der Kampf um die Wahrheit und die Ächtung der Lüge. Und deshalb bin ich froh, dass ich es nicht kann, berechnend zu lügen, dass ich eine rote Bombe bekomme und mich selbst verrate, wenn ich es doch mal versuche. Letztlich, denke ich, ist das auch gut so. Es hat mir zwar Unannehmlichkeiten bereitet, aber egal, es hat mich zur Rettung eines Wertes geleitet: Du sollst nicht lügen! Und das, davon bin ich fest überzeugt, zahlt sich auf lange Sicht immer noch aus! Selbst in unserer Welt des Internets.