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Riesiges StVO-Chaos: Handy am Steuer wieder erlaubt?

Geschrieben von Redaktion am . Veröffentlicht in "Darf ich?"

darf ich500Titel "Darf ich?" enthält Datei: #166484651 | © pixelkorn / Fotolia.comvon Julian Eckert

Kamen/Berlin. In unserer Artikelserie „Darf ich?“ haben wir bereits mehrfach über das Chaos in der neuen StVO-Bußgeldverordnung berichtet. Nach neuesten Erkenntnissen könnte das Chaos sogar noch größer sein. Womöglich sind alle Bußgeldkataloge seit 1970 ungültig. Folge wäre unter anderem: Telefonieren am Steuer wäre erlaubt.

Neuer Bußgeldkatalog 2020

Lange hatte es gedauert, bis Bund und Länder sich gemeinsam auf einen neuen Bußgeldkatalog geeinigt hatten. Am 28. April diesen Jahres trat dann nach schwierigen Verhandlungen eine Novelle in Kraft, die für Bund und Länder akzeptabel war. Darin war unter anderem vorgesehen, dass beim Nichtbilden der Rettungsgasse ein Bußgeld von 240 Euro anfällt. Weiter sollten Fahrradfahrer besser vor dem zu schnellen Rechtsabbiegen von LKW geschützt werden - wer mit mehr als Schrittgeschwindigkeit abbog, sollte 70 Euro zahlen und einen Punkt bekommen.

Kurz nachdem die StVO-Novelle beschlossen und in Kraft getreten war, nannte Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) die härteren Strafen selbst „unverhältnismäßig“. Was dann geschah, scheint ihm geradezu in die Karten gespielt zu haben: im neuen Bußgeldkatalog entdeckte der ADAC einen Formfehler. Dieser führte dazu, dass die härteren Strafen außer Kraft gesetzt wurden und die Straßenverkehrsämter eingezogene Führerscheine wieder zurückgaben. Angewendet wird aktuell eine ältere Version des Bußgeldkatalogs. Parallel wird zwischen Bund und Ländern erneut nach einem Kompromiss gesucht, was sich als überaus schwierig erweist. Mehrere Bundesländer sehen keine Veranlassung dazu, inhaltlich etwas an dem neuen Bußgeldkatalog zu verändern. Schließlich habe man sich auf diese Fassung erst nach langen Verhandlungen einigen können. Andreas Scheuer möchte aber die seiner Meinung nach „unverhältnismäßigen“ Sanktionen abmildern und nicht bloß den Formfehler beheben. Eine Lösung dieses Problems ist derzeit nicht in Sicht.

Neue Erkenntnisse: Auch frühere Novellen unwirksam?

Ein aktueller Brief aus dem Verkehrsministerium Baden-Württemberg an Scheuers Ministerium bringt nun zusätzlich Brisanz in das Thema. Darüber berichteten der Spiegel und die Neue Osnabrücker Zeitung. Demnach haben Juristen des baden-württembergischen Verkehrsministerium herausgefunden, dass auch zahlreiche frühere StVO-Bußgeldnovellen unwirksam seien. Sie litten alle an demselben Formfehler, wie die aktuelle Novelle.

Rechtlicher Hintergrund zum Erlass von Verordnungen

Im Kern geht es rechtlich um folgendes Problem: Um der in Deutschland geltenden Gewaltenteilung Genüge zu tun, werden Gesetze in aller Regel von dem durch die Bürger gewählten Parlament beschlossen. Bei der StVO und dem zugehörigen Bußgeldkatalog handelt es sich jedoch jeweils um eine Verordnung - also ein Gesetz in nur materiellen Sinn. Dies bedeutet, dass die Verordnungen nicht durch ein Parlament beschlossen, sondern durch das Bundesverkehrsministerium - also eine Verwaltungsbehörde - erlassen wurde. Um dem Grundsatz der Gewaltenteilung Genüge zu tun, dürfen Verwaltungsbehörden Verordnungen nur dann erlassen, wenn sie dazu vom parlamentarischen Gesetzgeber ermächtigt wurden. Diese Ermächtigungsgrundlage muss sodann in der Verordnung von der Verwaltungsbehörde exakt erwähnt („zitiert“) werden. Diese exakte Zitierung soll nach neuesten Erkenntnissen in zahlreichen StVO-Bußgeldverordnungen gefehlt haben.

Folge: Verbotenes nun wieder erlaubt!?

Wenn sich die Rechtsauffassung des Verkehrsministeriums Baden-Württemberg als zutreffend erweisen sollte, hätte dies drastische Konsequenzen. Sämtliche Bußgeldkataloge seit 1970 dürften nicht mehr angewendet werden. Unwirksam wäre also insbesondere auch die nach dem Bekanntwerden des Zitierfehlers in der 2020er-Novelle aktuell angewendete ältere Fassung. Vielmehr würde nun der letzte Bußgeldkatalog angewendet werden, in dem korrekt zitiert wurde. Dies ist der Bußgeldkatalog, der 1970 unter Bundesverkehrsminister Georg Leber (SPD) in Kraft trat. Kurzum: Es würde also heute wieder das Recht von 1970 gelten. All dasjenige, was damals nicht sanktioniert wurde, wäre im Straßenverkehr wieder erlaubt. Man dürfte also als Fahrer, ohne eine Strafe zu fürchten, am Steuer mit dem Handy telefonieren. Auch müsste man seine Kinder nicht mehr auf dem Kindersitz anschnallen. Elektroscooter dürften im Straßenverkehr nicht mehr betrieben werden, da sie 1970 noch nicht vorgesehen und erlaubt waren. Das Chaos und die Rechtsunsicherheit sind enorm. Verkehrsrechtsanwälte machen bereits darauf aufmerksam, dass Autofahrer gegen Punkte in Flensburg vorgehen könnten, die sie nach der Rechtslage von 1970 nicht bekommen hätten. Auf Anfrage des Spiegel erklärte das Bundesverkehrsministerium, dass die Novelle von 2013 unter Minister Peter Ramsauer (CSU) „nicht an einem Zitierfehler“ leide und daher anzuwenden sei. Die Juristen des baden-württembergischen Verkehrsministerium finden in ihrem Brief an Scheuer hingegen drastische Worte: Er solle zeitnah und „vor allem (einen) sorgfältig gefassten Neuerlass“ vorlegen.