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Musikkritik: Herzogenbergs Weihnachtsoratorium: Ein ganz besonderes Musikereignis in der Pauluskirche

am . Veröffentlicht in Musik

Schieferturm 12KWvon Dr. Götz Heinrich Loos

Kamen. Manchmal braucht auch ein Rezensent etwas Zeit zum Nachdenken, besonders wenn er etwas Neues gehört hat und das, was er gehört hat, auch noch besonders gut findet - sowohl Komposition als auch Interpretation. Deshalb hat es jedenfalls etwas gedauert, bis ich genug Sammlung und "Input" hatte, um mich endlich hinzusetzen und eine Kritik zu schreiben. Damit ist schon Einiges gesagt - aber längst nicht alles. Tatsächlich ist es eine große Nachlässigkeit meinerseits, den Komponisten Heinrich von Herzogenberg bislang fast ganz links liegen gelassen zu haben. Nicht nur rein wegen seines kompositorischen Schaffens, sondern vor allem auch weil er zeitlich in den Rahmen der Spätromantik einzuordnen ist und dies ein Zeitraum ist, der mich besonders interessiert - gerade auch die weniger bekannten und "vergessenen" Komponisten. So habe ich einige Zeit zuvor dann doch angefangen, seine Werke anzuhören und zu studieren. Und war schon begeistert... Deshalb bin ich mit großer Erwartung am Samstag in die Pauluskirche gegangen, um dort die Aufführung von Herzogenbergs Weihnachtsoratorium op. 90 "Die Geburt Christi" zu hören und zu sehen. Und was ich gehört und gesehen habe, hat mich begeistert - wie gesagt, sowohl kompositorisch als auch interpretatorisch.
Ausführende des Werkes für Solostimmen, gemischten Chor, Kinderchoir, Streicher, Oboe, Gemeindegesang und Orgel waren Antje Bischof (Sopran), Silke Pasche (Alt), Stefan Sbonnik (Tenor) und Gustav Muthmann (Bass), als Chöre traten die Evangelische Kantorei und der Evangelische Kammerchor Kamen, die Jugendkantorei und ein Projektsingkreis auf, dazu das Pauluskirchen-Kammerorchester. Kirsten Schweimler-Kreienbrink leitete das Konzert und hatte alle Beteiligten mit sagenhafter Perfektion einstudieren lassen. Das umfangreiche Werk mit 34 Nummern verdient wenigstens eine teilweise eingehendere Besprechung, deshalb bereits an dieser Stelle ein Wort zu den Ausführenden: Der strahlende, kräftige Tenor Stefan Sbonniks war für seine Partien, insbesondere als Evangelisten-Rezitative angelegt - aber auch in Arien, begeisterte und kann als absolut passend bezeichnet werden. Auch Antje Bischof und Gustav Muthmann prägten ihre Partien mit höchster Professionalität und waren glänzend. Das kann man allerdings für Silke Pasche leider nicht bestätigen: Der Gesang wirkte kraftlos und angestrengt, mitunter schien es so, als fehle hier kunstgesangliches Handwerkszeug.
Dafür waren die Chöre fantastisch - mir fehlten die Worte. Die Professionalität der Kamener klassischen Musikszene ist schon so gewaltig geworden und doch wird man jedes Mal aufs Neue freudigst überrascht - oder besser doch: bestätigt. Ich fand ab und zu leichte Verstimmungen in hohen Soprantönen, aber immer weniger gegenüber früher - und das war es dann auch... Sonst vermag ich über nichts Weiteres im Chorgesang zu meckern. Und auch das dünn besetzte Pauluskirchen-Kammerorchester - genauso wie es vom Komponisten und seinem Librettisten Friedrich Spitta vorgesehen war, damit das Werk problemlos mit auch nur wenigen Instrumentenstimmen aufgeführt werden konnte - war erstaunlich exakt und hervorragend abgestimmt.
Was muss nun noch über das Werk gesagt werden? Zunächst einmal vielleicht, dass dieses in den letzten Jahren etwas mehr, aber immer zu selten aufgeführte Weihnachtsoratorium grundsätzlich zur weiteren Aufführung und Verbreitung anempfohlen werden kann. Der Internationalen Herzogenberg-Gesellschaft aus Heiden in der Schweiz, die sich um Erhalt und Verbreitung von Herzogenbergs Werken bemüht, war die Kamener Aufführung jedenfalls gut genug, um den Programmheft ein Werbeblatt beizugeben, in dem auf ihre Aktivitäten aufmerksam gemacht wird. Herzogenberg ist zweifellos von Bach und seinem Weihnachtsoratorium inspiriert worden, aber sein Werk ist doch völlig anders, so dass es verärgert, wenn man an anderer Stelle lesen muss, dass es eine "Version" des Weihnachtsoratoriums sei, genauso wie Bachs Komposition auch eine "Version". Wer so etwas schreibt, sollte lieber gar nichts schreiben!
Das Werk ist in drei Teile gegliedert: Die Verheißung, die Erfüllung und die Anbetung. Der erste Teil beginnt mit einem prachtvollen Orgelvorspiel, dann setzt die Chorgemeinschaft mit "Dies ist der Tag, den Gott gemacht" (Melodie „Vom Himmel hoch“) ein. Gleichzeitig singt dies auch die Gemeinde, die bei allen Chorälen mitsingen soll. Um dies zu verstärken, hat Kirsten Schweimler-Kreienbrink einen Teil der Chorgemeinschaft nicht zu dem anderen in den Altarraum platziert, sondern direkt vor den Kirchenbänken neben die Instrumentengruppe, so dass sie den Gemeindebereich beschallen und so deren Gesang verstärkt wird. Eine grandiose Idee, die durchaus fruchtete. Der Chor folgt mit „Ich harre des Herrn, meine Seele harret“, ein wegen seiner dramatischen kompositorischen Anlage schon sehr beeindruckendes Stück, das den Chormitgliedern bereits einiges an Dynamik und Präzision abverlangt – bestens gelungen. Nach einem Männerquartett intoniert der Chor „Erhalte mich durch dein Wort“, das in der dramatischen Anlage dem vorigen Chorstück folgt. Nach einem rezitativartigen Einsatz des Basses („So sprach der Herr zur Schlange“) kommt der Chor mit einer Fuge „Hier leiden wir die größte Not“ (aus dem Adventslied „O Heiland, reiß die Himmel auf“), die fast händelartig aufgelöst wird. Der Bass macht rezitativisch weiter, dann besingt der Chor „O klares Licht, o schöner Stern“ in weihnachtlich besinnlich Zurückgenommenheit und melodisch klarer Schönheit. Der Tenor übernimmt nun das Rezitativische, der Chor schwingt, tanzt sich mit „O Erd, schlag aus“ in die Höhe. Tenor und Männerquartett übernehmen die Verheißung aus Jesaja mit dem Schlüsselpart „Das Volk, so im Finstern wandelt, siehet ein großes Licht“. Sehnsüchtig fragt der Chor danach „Kommst du, kommst du Licht der Heiden?“ mit großer Schwermut und Tiefgang, das dann aber noch in einen friedlich-glückseligen Abschluss mündet, bevor mit dem Choral „Ich lag in schweren Banden“ der erste Teil schließt.
„Die Erfüllung“: Tenor, Alt und Sopran bringen in einem teils accompagnato-artig angelegten Rezitativ die Verkündigung durch den Engel Gabriel. Die Aussicht auf Jesus und wen er darstellt und für die Menschen bringen wird, ist das Motiv der folgenden Stücke einschließlich der Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas-Evangelium. Sehr schöne, sanfte Chöre sind dabei: „Jesus ist ein süßer Nam’“; ebenso sehr kräftige, strahlende – wiederum eher an Händel erinnernde – wie „Sei gesegnet, teures Reich“. Das Weihnachtslied „Es ist ein Ros’ entsprungen“ ist in einer sehr zurückgenommenen, zarten, ausgeprägt mehrstimmigen, langsamen Version hier eingebaut. Nach einem Zwischenspiel mit Solocello und Orgel geht es weiter mit der Weihnachtsgeschichte, auch ein Wiegenlied von Maria und Josef ist dabei. „Ehre sei Gott in der Höhe“ und der Choral „Allein Gott in der Höh’ sei Ehr“ beenden gewissermaßen als glorioses, engagiertes Pflichtprogramm den zweiten Teil des Oratoriums.
Mit „Die Anbetung“ ist der dritte Teil überschrieben. Eine freundliche, sanfte Hirtenmusik mit Oboe und Streichern leitet ein. Der „Chor der Kinder“ (hohe Stimmen) ruft im Wechsel mit Oboe und Begleitung zum Ehren von Christus auf, die Hirten (Chor ohne Sopran) zum Gehen nach Bethlehem, gefolgt vom Weihnachtslied „Kommet ihr Hirten“, auf das der „Chor der Kinder“ melodienhaft schon hingedeutet hat. Nach weiteren Hirtengesängen – dabei ein Quartett der Solisten mit dem Chor von ausgeprägter Freude – und Dankesworten Marias steuert das Oratorium auf einen großen Chorsatz mit wechselnd den vier Solisten und der Chorgemeinschaft hin: „Gelobet sei der Herr, der Gott Israels“. Jesus’ zukünftiges Wirken wird mit Dank an Gott in Aussicht gestellt, endend mit einem Cantus-firmus-Chor: „Er ist auf Erden kommen arm“. Schließlich nochmals ein Choral nach der Melodie „Vom Himmel hoch“: „Sei willekomm, du edler Gast“, gefolgt von einem Nachspiel der Orgel.
Man sieht, dass ganz verschiedene Bibelstellen mit Liedern verbunden werden, in einer beeindruckenden Kunstfertigkeit. Der Chorgemeinschaft vor allen anderen gelang hier eine Meisterleistung – eine durch und durch erstrangige Interpretation. Und es ist zu hoffen, dass es zukünftig weitere Aufführungen dieses beeindruckenden Werkes in Kamen geben wird.