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Musikkritik: 5. Sinfoniekonzert: „Südstaaten“ – eine farbige Palette üppiger Musik mit viel eingebautem Jazz

am . Veröffentlicht in Musik

Pixabay.comvon Dr. Götz Heinrich Loos

Kamen. Nun könnte man den oben verwendeten Begriff „farbig“ unter heutigen Vorzeichen als politisch nicht ganz korrekt verstehen, mir also eine Doppeldeutigkeit in der Auslegung dieses Begriffes hier zurechnen. Das mag ja jede/-r denken, wie er/sie möchte. Tatsache ist, dass das Programm, das die Neue Philharmonie Westfalen und GMD Rasmus Baumann am Mittwochabend in der Konzertaula präsentierten, nicht einseitig die landschaftliche Schönheit und die Sozialromantik des Lebens in den Mittelpunkt ihrer „Südstaaten“ stellten, sondern nicht weniger die aus Rassismus und Armut unter den Afroamerikanern resultierenden Probleme, die trotz vielerlei Verbesserungen dort bis heute nicht grundsätzlich ausgeräumt sind. Dies spiegelte sich bereits in der Wahl des ersten Werkes: „Nobody knows de trouble I see“, Konzert für Trompete in C und Orchester, von Bernd Alois Zimmermann. Wie Roland Vesper im Einführungsvortrag betonte, sollte man beachten, dass es im ursprünglichen Spiritual heißt: „… troubleI’veseen“. Zimmermann geht also auf die Aktualität der Probleme ein, das Werk bringt eine Solidarisierung mit der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung während der so genannten „Rassenunruhen“ (ein reichlich verharmlosender Begriff, dessen Verwendung im Programmheft etwas Erläuterung bedurft hätte). Der öfters innerlich zerrissene Zimmermann setzte sich mit seinem Werk wieder einmal zwischen alle Stühle, in einer Zeit dominierender Dogmen der Neuen Musik. Er suchte einen eigenen Weg und verknüpfte Spiritual, konzertierenden Jazz, Zwölftontechnik und Tonalität, teils in choralartigen Partien – gegen jeden neumusikalischen Purismus. Sicher, wenn man den breiten Publikumsgeschmack als Maßstab nähme, wären auch hier Vorbehalt und Gewöhnungsbedürftigkeit vordergründig. Die Schärfen und Atonalitäten der Neuen Musik verleihen aber einer Problemorientierung des Werkes hinsichtlich der extremen Lebensbedingungen der Betroffenen, der Klage, Gewalt und Trostlosigkeit und als Schrei für die Menschlichkeit eine gewaltige Ausdruckskraft. Es wird ein weiter Bogen gesponnen, von leisen, bisweilen schrillen Tönen, mit Versatzstücken des angesprochenen Spirituals, über Ausbrüche, Zaghaftigkeit, fast Jazzsessions hin zum Spiritual in etwas „gemarterter“ Choralversion und schließt mit Themenmaterial vom Anfang. Die Neue Philharmonie Westfalen bewies einmal mehr, dass sie auch in dieser Epoche oder vielmehr diesen Richtungen der Musik bestens bewandert ist. Als Solist konnte einer der renommiertesten deutschen Trompetenvirtuosen gewonnen werden: Reinhold Friedrich. Schon als Person weist er eine ungeheure Präsenz auf; an der Trompete ist er aber unschlagbar und vermochte den kompositorisch vorgegebenen Nuancenreichtum seines Parts im Werk bis ins kleinste Detail auszukosten und in seiner Deutung noch filigraner herauszustellen, ob mit oder ohne Dämpfer. Es ist schon verblüffend, was dieses Instrument vermag – besonders dann, wenn ein Spezialist sich daran verdingt. Die Interpretation war grandios, was auch daran lag, dass das Orchester die Dynamik und Ausdruckswandel in voller Betonung und Detailliertheit wiedergeben konnte. Das Publikum ließ Reinhold Friedrich freilich nicht ohne Zugabe gehen: schwungvoll musizierte er mit Rasmus Baumann als Begleiter am Klavier Gershwins von der Melodie her auch allgemein nicht unbekanntes PreludeNo. 1. Großer Applaus, zurecht.

Von ganz anderer musikalischer Sprache, wenngleich ebenso ein Stück aus dem schwierigen Leben der Afroamerikaner in den Südstaaten wiedergebend, war dann "PorgyandBess". Aber nein, es war nicht Gershwins komplette Oper, sondern "A Symphonic Picture for Orchestra", also im Prinzip eine rein instrumentale Suite, aber einsätzig - also eher ein Medley, mit den wichtigsten Melodien aus jenem großartigen Werk, genial arrangiert von Robert Russell Bennett. "Summertime", das wohl bekannteste Stück aus dem Werk, kommt dabei ziemlich am Anfang und war sichtbar für die meisten im Publikum der Aufhänger zum Einhören. Auch die anderen bekannten Melodien, u.a. "I GotPlentyO'Nuttin" und "ItAin'tNecessarily So", waren nach und nach zu hören und der vom Arrangeur gesetzte Rahmen umfasste alle diese "Favorites" in angemessener Weise, tatsächlich in einer Art von Broadway-typischem Medley. Auch hier brillierte die NPW, swingend und klingend - unter Zuhilfenahme zahlreicher Gastmusikerinnen und Gastmusikern, die z.B. Saxophone, Banjo und Gitarre, Klavier und Celesta sowie Ergänzungen zum üblicheren Schlagwerk spielten. Rasmus Baumann tanzte wieder einmal mit, bei diesem Werk sogar häufiger, und zeigte so, dass ihm die Interpretation sichtlich Spaß bereitete. Bei derart motivierten Vortragenden konnte dieses "sinfonische Bild" entsprechend nur vollauf gelingen - und das Publikum war begeistert.

Es folgte die Pause und danach zunächst Morton Goulds "American Salute", basierend auf dem in den Staaten äußerst populären Bürgerkriegslied "When Johnny comesmarchinghome" von Patrick Gilmore, das ebenfalls hierzulande zumindest als Melodie nicht unbekannt ist. Wenn Kerstin Schüssler-Bach im Programmheft schreibt, dass "Goulds Fassung" (des Liedes) "eine der effektvollsten" ist, dann kann ihr nur beigepflichtet werden. Sehr dynamisch und turbulent in vielen Abschnitten, kann man nur mitgehen, wenn die Melodie zupackt. Und das Orchester brachte erneut seinen besten Glanz in die Interpretation hinein.

Der Abschluss und Höhepunkt war FerdeGrofésfünfsätzige "Grand Canyon Suite", in Deutschland viel zu selten gespielt. Ich hatte schon vor Jahren eine der wenigen Aufnahmen auf CD entdeckt und häufiger gehört, da mich diese üppige spätromantische programmatische Musik schon beim ersten Mal regelrecht überwältigte. Ich halte sie für eine der besten musikalischen Naturschilderungen überhaupt und für das Phänomen oder die Phänomene des Grand Canyon überaus angemessen (auch wenn ich den Disney-Film über den Grand Canyon, der mit dieser Musik untermalt wurde, erst sehr viel später kennenlernen durfte; Grofés Komposition war fast dreißig Jahre vor dem Film entstanden). Rasmus Baumann und die NPW interpretierten das Werk in bester Weise - tempogerecht, dynamisch angemessen und mit viel Empathie; da waren "Sunrise" und "Cloudburst" gewaltig, "PaintedDesert", "On theTrail" und "Sunset" zart oder verspielt oder glanzvoll-langsam, auch mit lustigem Pferdetritt. Der Gesang von Vögeln, die Gewalt des Wassers, die Urkraft des Gesteins, aber auch schmetternde Hörner und ruhige Abendstimmung – all das sind Bilder, die Grofé prächtig verarbeitet hat. Die Interpretation: ein weiteres Glanzstück dieses herausragenden Orchesters. Nebenbei sei bedauert, dass die in den USA zumindest zu Lebzeiten sehr bekannten und sehr aktiven Komponisten wie Bennett, Gould und Grofé in Europa - im Unterschied zu Gershwin - weitgehend unbekannt sind; dazu hat sicherlich beigetragen, dass sie keine Dogmatiker waren (womit sich zudem der Kreis hin zu Bernd Alois Zimmermann schließt): sinfonische Werke im engeren Sinne haben sie genauso komponiert wie Film- und Theatermusik, sie haben arrangiert und ihnen waren Synkopierungen, Jazz, Gospels und Spirituals ebenso vertraut wie die traditionelle und teilweise die Neue klassische Musik. Da fällt es extremen Traditionalisten naturgemäß nicht leicht, solche Künstler im Konzertsaal zu akzeptieren. Schon deshalb ist Rasmus Baumann ein Gewinn (wie auch schon einige Male betont): Sein Durchbrechen der Schranken ist ein guter Schritt, Kompositionsgenies aus anderen Kreisen, Staaten und Umfeldern bei uns zumindest etwas populärer zu machen - und zu erkennen: Sieh' an, das ist doch auch klassische Musik! Meist sogar tonal durch und durch...