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Musikkritik: 6. Sinfoniekonzert: „Attraktionen“ – eines erstklassigen Orchesters und einer individuellen, glänzenden Sopranistin

am . Veröffentlicht in Musik

Pixabay.comvon Dr. Götz Heinrich Loos

Kamen. Mit dem Motto „Attraktionen“ für das 6. Sinfoniekonzert dieser Saison der Neuen Philharmonie Westfalen am Mittwochabend in der Konzertaula war kein Zirkus gemeint, sondern Jahrmärkte und besonders – weil Februar – der Karneval. Und so startete das Orchester unter Generalmusikdirektor Rasmus Baumann den Abend mit Dvořáks Konzertouvertüre A-Dur op. 92 B. 169, die den Titel „Karneval“ trägt, eigentlich Teil einer Ouvertüren-Trilogie namens „Natur, Leben und Liebe“ – für die mittlere der drei wählte er eben diesen „Karneval“, was natürlich bezeichnend für die Meinung des Komponisten über das Leben zu sein scheint: Das pralle, lustvolle, beschwingt feiernde Leben… Genauso ist die Ouvertüre auch gestaltet; was mich dabei immer wieder fasziniert, wie es hier geschafft ist, das Ende des Werkes möglichst herauszuzögern – mit einer Anzahl an „Scheinenden“, bis schließlich doch der Schlussakkord geschafft ist. Nun ist aber das „Leben“ selbst im Karneval doch nicht immer fröhlich, gibt es doch auch Abschnitte in Moll und zarten Holzbläsertönen, am Schönsten in den Passagen des Englischhorns (das ja nicht allzu viel später im zweiten Satz der „Neuen Welt“-Sinfonie eine ähnlich melancholisch-zarte Hauptrolle erhalten sollte). Die Interpretation entsprach in Allem dem, was ich an Vorstellungen mitgebracht hatte und überzeugte – wieder einmal – durch die Kombination von technischer Perfektion und tiefgehend emotionaler Ansprache. Ein großartiger Applaus zeigte, dass das Publikum von Werk und Interpretation begeistert war.

Das folgende Konzert für Koloratursopran und Orchester op. 82 von Reinhold Glière folgte. Hierbei handelt es sich um ein ausgesprochen selten aufgeführtes Werk, das in Kamen gewiss auch zum ersten Mal erklang. In finsterer Zeit des Zweiten Weltkriegs in Russland entstanden, denn Glière war ein deutschstämmiger Ukrainer, der aber hauptsächlich in Moskau wirkte, ist es doch mit seinem Glanz und seinem walzerhaften Schwung (vor allem im zweiten Satz) ein Gegensatz zu den Verhältnissen der Zeit. Die Sopranistin hat keinen Text – trägt also Vokalisen vor – muss aber trotzdem sehr konzentriert und gewandt singen, weil Dynamik und Tempo einige Schwierigkeiten abverlangen. Dabei geht es vor allem um ein günstiges Halten der Stimme über längere Zeit und eine gute dynamische Abstimmung mit dem Orchester. Nachdem die ursprünglich vorgesehene Sopranistin Nicole Chevalier wegen Krankheit ausgefallen war, übernahm Christina Rümann diesen Part. Trotz eines schon vor Jahren abgeschlossenen Diploms und Zusatzexamens erhält sie weiterhin Gesangsunterricht, derzeit bei der weltberühmten Cheryl Studer; sie ist also noch lange nicht am Höhepunkt ihrer Karriere angelangt und man kann nur wünschen, dass sie eine gute Karriere hinlegt, denn in ihrer Stimme liegt etwas einzigartig-Sanftes, etwas Tiefgehendes, das Koloraturen bestens bewältigt. Sie besitzt sehr Individuelles in ihrer Stimme und das macht Hoffnung auf mehr – auf passende, angemessene Partien, die ihrer wunderbaren, auch recht klaren, Stimme zu optimalem Glanz verhelfen. Auch das Publikum war gebannt und maximal erfreut, der Applaus war entsprechend stark und auf eine Zugabe hin orientiert. Die kam dann auch, von Orchester und Sängerin: Die „Vokalise schlechthin“, wie Rasmus Baumann kommentierte, Rachmaninows „Vocalise“. Und wieder brachten alle Beteiligten ihr Bestes, Christina Rümann hätte hier aber bei einzelnen Stellen konzentrierter sein können. Nichtsdestotrotz: Auch die Zugabe hätte eine Zugabe verdient…

„Petruschka“ (oder im Originaldruck „Pétrouchka“), das den Abend beschloss, gehört zu Strawinskys bekanntesten Werken. Als Ballettmusik für das “Balletsrusses“ komponiert, gilt es vielen Fachleuten doch als Strawinskys Abwendung von der Spätromantik hin zu den Klängen, mit denen er zuerst im „Frühlingsopfer“ („Sacre de Printemps“) mit „skandalösem Einstand“ bei der Uraufführung experimentierte. Das mag man so sehen; ich erkenne aber sowohl bei „Petruschka“ als auch im „Sacre“ sehr ausgeprägte spätromantische Elemente, jedoch bei erstgenanntem Werk noch sehr viel mehr, mit seinen Zitaten aus russischer Volksmusik und von Walzern; ein durchgreifender Richtungswechsel ist hier für mich noch nicht sichtbar. Wie auch immer, das musikalisch beschriebene Puppentheater auf einem russischen Jahrmarkt in der Karnevalszeit bringt Zuhörende mit seinen leitmotivischen Themen in ihren Bann; kompositorisch besonders gut gelungen finde ich persönlich aber den Abschnitt, in dem regelrecht lebendig dargestellt ist, wie ein meckernder Bärentreiber (Klarinette) einen Tanzbären (Basstuba) über den Jahrmarkt treibt oder zieht, besonders hört man auch, wie die Beiden ankommen, über den Jahrmarkt laufen und sich allmählich entfernen – Programmmusik vom Feinsten.Es lohnt nicht, sich hier mit Details der Interpretation aufzuhalten – es gab schlichtweg nichts, was ich nicht gelungen oder suboptimal fand; im Gegenteil: es war schlichtweg Begeisterung, die ich angesichts der Interpretation komplett im meinem Sinne verspürte. Es ist entsprechend wieder einmal Schade, dass die Konzertaula weithin freie Plätze aufwies – nicht nur, dass das musikalische Ereignis schlechthin doch anziehen müsste; vielmehr auch über die Saison fast durchgehend perfekte, erstrangige interpretatorische Leistungen „unseres Kreisorchesters“, das die NPW ja unter anderem ist, sollte mehr potenzielle Zuhörerschaft motivieren, derartige grandiose Ereignisse wahrzunehmen.