-Anzeige-

GSW

Musikkritik: Eine Glanzstunde Kamener Musikgeschichte

am . Veröffentlicht in Musik

Musik Datei176696959 Urheber abstract fotoliaDatei: #176696959 | Urheber: abstract | fotolia.comvon Dr. Götz Heinrich Loos

Es ist nichts Neues, über Kamens Chöre und die Neue Philharmonie Westfalen überschwänglichen Lob auszuschütten. Und immer gibt es kritische Stimmen, die eine zu positive Kritik „aus der Provinz“ zu relativieren suchen. Aber statt sich mit Vergangenem und Kritikasterhaftem aufzuhalten, sollte man sich vielmehr an dem orientieren, was kürzlich erklungen war und daran seine Bewertungen festmachen. Und dabei zeigt sich – nun eben wieder einmal – die Erstklassigkeit der genannten Ensembles. Als Festkonzert zum 50jährigen der „Neuen Stadt Kamen“ war am Samstag in der Konzertaula zunächst Carl Orffs berühmte „Carmina Burana“ zu hören. Abschließend folgte eine kurze, aber feine Uraufführung: „Die Hymne zum 50. Jubiläum der Stadt Kamen“ unter dem Titel „Stadt Kamen: Glück auf!“, im Untertitel noch „Carmen Camensis“ (also das „Kamener Lied“ auf deutsch); komponiert von Kamens musikalischem MastermindReinhard Fehling. Die Beschäftigung mit letztgenanntem Werk erforderte etwas Zeit, so dass die Rezension etwas verzögert erscheint, aber hoffentlich noch auf Interesse stößt.

Die Aufführung wurde neben der Neuen Philharmonie Westfalen und den beiden bewährten Gesangssolisten Bettina Lecking (Sopran) und Michael Dahmen (Bass) von einem gewaltig großen Chor gestemmt, dessen Hauptteil aus dem Oratorienchor der Stadt Kamen bestand, hinzu kamen der Evangelische Kammerchor Kamen, der Chor „Die letzten Heuler“, der Kinder- und Jugendchor Kamen, der Kinderchor der Evangelischen Kirchengemeinde sowie Chor-Projektsänger. Einstudiert wurden die Chöre von ihren jeweiligen Leitern, neben Franz-Leo Matzerath also Kirsten Schweimler-Kreienbrink und Reinhard Fehling, die auch im Chor mitsangen. Dirigiert wurde der große musikalische Apparat von Franz-Leo Matzerath.

Die „Carmina Burana“ gehören zum Populärsten, was die klassische Musik hergibt, wobei damit eigentlich der Eingangschor „O Fortuna“ gemeint ist. Den großen Rest der „weltlichen Gesänge“ aus der Benediktbeurer Handschrift kennen meist nur Freunde der klassischen Musik oder explizit dieses Werkes. In Kamen wurden die „Carmina Burana“ immer wieder in mehr oder weniger großen zeitlichen Abständen aufgeführt, stets in sehr hörbaren Aufführungen; seit Beginn meiner Rezensententätigkeit durfte ich wiederholtgroßartige Interpretationen hören. Der Anspruch an diese Aufführung war entsprechend hoch. Tatsächlich war der Riesenchor wie das Ensemble plus Solisten insgesamt herausragend, Schwächen in irgendeiner Form konnte ich nicht heraushören, abgesehen davon, dass die Männerstimmen am Anfang erst in der Dynamik etwas „warm werden“ mussten, was sich aber schnell einstellte. Bei der Überzahl an Frauenstimmen mitzuhalten, war sicherlich auch nicht immer einfach. Die beiden Kinderchöre konnten ihre Beiträge teilweise in erstaunlicher musikalischer Professionalität vorbringen – und wenn es dann doch mal bei einzelnen Stellen etwas patzte, war das eher putzig und rührend als eine Qual für die Ohren!

Persönliche Höhepunkte für mich waren der überraschende Gesangsvortrag von Franz-Leo Matzerath, der den gebratenen Schwan in Teil 12 verkörperte (bestens gesungen, der qualvolle Ausdruck hervorragend gelungen!) sowie generell der „Cour d’Amours“, der mir an manchen Stellen wohlige Schauer über den Rücken jagte (z. B. bei „Dies, nox et omnia“, die Michael Dahmen mit dem ausgewogenen Wechselbad aus Verzweifelung und Zorn genial herüberbrachte), an anderen fast die Tränen in die Augen steigen ließ. Was kann man Besseres von einer Interpretation erwarten! Dass diese Professionalität bis zum Schluss durchhielt, kann man gut am „Ave formosissima“ (Teil 24, „Blanziflor et Helena“) festmachen, wo bei den aufsteigenden, besonders glanzvollen Abschnitten meist noch Gutes gelingt, bei den zwischenliegenden Sequenzen mit teilweise ähnlichen und gleichen Akkorden aber bei diversen Interpretationen keine Mühe mehr aufgewandt wird und eher lustlos verschleiernde Töne herauskommen – hier jedoch alles makellos, mit Elan und eben… Glanz.

Und das ist das Stichwort: Allein diese „Carmina Burana“ waren eine Glanzstunde Kamener Musikaufführungen. Es wirkte, als wären die Beteiligten sämtlich so intime Kenner des Werkes, dass sie es perfekt auswendig hätten vortragen können – und zwar lustvoll und nicht heruntergeleiert! Der große Chorapparat tat sein Übriges; man kann darüber diskutieren, ob eine derart gewaltige Sängerschar dem Werk angemessen ist – aber diese Interpretation bewies, dass die „Carmina Burana“ dafür bestens geeignet sind. Für meinen Teil möchte ich behaupten, dass dies die beste Interpretation des Werkes war, die ich bislang in Kamen gehört habe – und dass diese Interpretation sich durchaus mit denjenigen der so genannten Größen in der einschlägigen Musikszene messen kann. Deshalb war es ohne Frage eine Glanzstunde in der Kamener Musikgeschichte.

Musikalisch interessanter war für mich allerdings dann die Uraufführung von Reinhard Fehlings Kamener Hymne. Textlich hat sich Fehling bemüht, allzeitliche und aktuelle Themen einzuarbeiten – mit dem Höhepunkt auf „Glück auf“, offensichtlich ein kleiner Seitenhieb und seine Positionierung bezüglich der seinerzeitigen Diskussion beim Bürgermeisterwahlkampf. Dieses Thema, überhaupt der vergangene Bergbau, der die Stadt geprägt hat, bestimmt die dritte und letzte Strophe und bezieht im Finalteil musikalisch sogar eine Passage aus dem gleichnamigen Steigerlied mit ein. Ansonsten tauchen in der ersten Strophe die Lage Kamens, seine Wohnlichkeit und natürlich das Kamener Kreuz auf, auch etwas kritisch mit Hinweis auf Tempo und Lärm – womit sicherlich nicht nur die Autobahnen gemeint sind. Strophe Zwei behandelt die Seseke, einige ihrer Bewohner (Bleier und Reiher) sowie ihre Renaturierung, während im zweiten Abschnitt der Strophe der schiefe Turm und seine Geschichte bzw. die Geschichte der Stadt insgesamt in gebotener Kürze im Mittelpunkt stehen.

In musikalischer Hinsicht fallen die zunächst recht häufigen Taktwechsel zwischen 6/8 und 4/4 auf, bis sich ein 6/8-Takt durchgehend einstellt. Notiert ist das Werk in F-Dur, wobei sich die Ausführung große Freiheiten um die Tonart herum nimmt. F-Dur hat ziemlich klare, kräftige Klangfarben, gilt als Tonart der Natur und der Hirtenmusik (weil Holzbläser ursprünglich meist in F gestimmt waren, so auch Hirtenflöten), man denke an Beethovens Sechste, die „Pastorale“, die in F-Dur steht. Ihre Wahl könnte auf eine „Natürlichkeit“ bzw. Unkompliziertheit im Leben der Stadt Kamen anspielen. Die Struktur des Werkes und die Ausarbeitung der Melodien erinnert an barocke und frühklassische Festmusiken, insbesondere bei Thomas Arne („Rule Britannia“) finden sich einige ähnlich strukturierte Werke, teilweise auch mit entsprechenden rhythmischen Wechseln.

Die sanfte Einleitung der Strophen wird von den Holzbläsern besorgt – in einer ab- und aufsteigenden Akkordfolge, dann erklingt eine kurze festliche absteigende Melodie in den Blechbläsern, besonders von den Trompeten. Der Chor setzt ebenfalls sanft-feierlich ein; während der Strophen erfolgt dann der Wechsel vom 4/4- zum 6/8-Takt, wobei nach zwei Takten schon wieder zum 4/4-Takt gewechselt wird. Das wirkt sehr unruhig und macht die Hymne nicht sonderlich eingängig, was natürlich schade ist, weil sie so als „Gassenhauer“ kaum geeignet scheint. Als ich mich nach dem Konzert umhörte, waren Zuhörer/-innen und Chorsänger/-innen nicht einhellig begeistert von der Hymne – und zwar genau aus den genannten Gründen.

Zweifellos hat Reinhard Fehling hier eine bedeutende Komposition vorgelegt, die im Kontext anderer Hymnen besonders aus Barock und Frühklassik gesehen werden sollte – weil eben ähnlich in der Wirkung: komplex und nicht unbedingt zum Nachpfeifen; die Struktur weicht dann doch ab, weil hier besonders die raschen Taktwechsel die Komplexität noch wesentlicher ausmachen. Und genau deshalb wird „Carmen camensis“ wohl kaum auf Kamens Straßen gepfiffen werden – trotz der gründlichen und verdienstvollen Ausarbeitung. Reinhard Fehling hatte ich übrigens noch am Abend meine Bedenken mitgeteilt; er nahm’s mit Humor und merkte nur an: Wenn man schon mal für großes Sinfonieorchester komponieren kann...