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5. Sinfoniekonzert der Spielzeit 2022/2023 der Neuen Philharmonie Westfalen: "Aus dem Zarenreich"

Geschrieben von Redaktion am . Veröffentlicht in Musik

von Dr. Götz Loos

Musik Datei176696959 Urheber abstract fotoliaMusik Datei176696959 Urheber abstract fotoliaKamen. Bei diesem Titel des Konzerts bekommt man angesichts der aktuellen Lage vielleicht einen schalen Beigeschmack. Doch die russische genau wie die ukrainische Kultur sowie diejenige anderer ehemaliger Sowjetrepubliken gilt es zu verteidigen gegen rezenten Angriffskriegswahnsinn und Cliquen-Despotismus - und denjenigen unter Beschuss Stehenden sollte die Wertschätzung ihrer Kultur durch Entdeckungs- und Vertiefungs-Aufführungen deutlich gemacht werden. Sowieso beeindruckt die Musik aus dem Gebiet des ehemaligen Sowjetreiches tief, wenn man sich auf sie einlässt.

Der gebürtige Armenier Aram Chatchaturjan, sowjetischer "Volkskünstler", war der erste aufgeführte Komponist des Abends. Die gebrachte Bühnenmusik zu Lermontows tragischem Drama "Maskerade" gehört wenigstens partiell zu den (im Westen) bekanntesten Werken Chatchaturjans, inbesondere die Suite daraus. Und von den fünf Sätzen der Suite ist der am Anfang stehende Walzer wiederum der bekannteste. Diesen Walzer habe ich seit Langem in mein Herz geschlossen, weil er so gar nichts mit der Zuckersüße der Wiener Walzertradition zu tun hat. Die Neue Philharmonie Westfalen interpretierte unter Stabführung von Gastdirigent Srba Dinić hierbei auch noch etwas ruppiger, schneller als üblich - ein regelrechtes Bürsten gegen den Strich. Aber auch die anderen vier Sätze gelangen absolut professionell und berührend - alle durch Charakterthemen ausgezeichnet, mal lustiger, mal melancholischer, mal bizarrer. Eine großartige Interpretationsleistung.

Kontroversen im Publikum löste dann allerdings das zweite Werk aus: Sofia Gubaidulinas "Fachwerk" für Bajan, Percussion und Streichorchester. Den Solopart auf dem russischen bzw. tatarischen Knopfakkordeon spielte der Auftraggeber und Widmungsträger des 2009 uraufgeführten Werkes, Geir Draugsvoll, höchstpersönlich.
Die Komponistin, aus Tatarstan stammend und schon lange in Deutschland lebend, eckte wegen ihrer Kompositionsstilistik zu Sowjetzeiten erheblich an und bekam Probleme, ließ sich jedoch von ihrer künstlerischen Hauptlinie nicht abbringen.

Wie die Konstruktion des Fachwerkes im klassischen deutschen Hausbau, so liegt die Intention im Werk darin, die Konstruktionsweise bzw. die Möglichkeiten der Klangerzeugung durch das Instrument deutlich zu machen. Dies geschieht beispielsweise dadurch, dass dieselbe Knopffolge auf verschiedenen Knopfsystemen gespielt wird, ungeachtet der verschiedenen Klänge - oder vielmehr, um die verschiedenen Klänge daraus zu verdeutlichen. Dass dabei viel Technik-Geräuschhaftes und wenig - mindestens traditionelles - Melodiöses hervorgebracht wird, liegt auf der Hand. Gubaidulina sieht im Endeffekt dabei eine Wandlung in Ästhetisches. Man kann trefflich darüber diskutieren, ob diese Ästhetik weithin teilbar ist - und ob das hiesige Publikum diese Ästhetik als solche empfindet. Die Pausendiskussionen waren jedenfalls höchst kontrovers...

Nichtsdestotrotz bewies Bajan-Solist Geir Draugsvoll, international renommierter Künstler auf den Akkordeonarten, seine Virtuosität inklusive einem nahezu organischen, geborenen Verständnis des Instrumentes. In der kompositorischen Einbettung des Soloinstrumentes durch Streicher und Schlagwerk muss man in jedem Fall eine perfekte kompositorische Anlage sehen, die auch in der hiesigen Interpretation sehr deutlich wurde.

Der Sinfoniepart des Abends kam schließlich Tschaikowskijs Sinfonie Nr. 2 c-moll op. 17 zu, der so genannten "Kleinrussischen", womit die Ukraine gemeint ist. Tschaikowskij hatte das Werk hier auf dem Gut seiner Schwester nahe Kiew komponiert und reichlich Volksweisen verarbeitet, eben auch einige solche aus der Ukraine. "Drunten bei der Mutter Wolga", melancholisch im Ersten Horn, leitet die sehr durch und durch mit eingängigen Melodien angelegte Sinfonie ein. Die Interpretation war durchgehend hervorragend, absolut angemessen bis in die kleinste Akkordfolge und so voll-wohltönend, dass sie zum absoluten musikalischen Leckerbissen geriet - eine Meisterleistung (erneut) der NPW und ihres Dirigenten Srba Dinić.