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Der Weihnachtsdichter: Eine Weihnachts-Kurzgeschichte

Geschrieben von Redaktion am . Veröffentlicht in Wort & Buch

stern20kwvon Dr. Götz Heinrich Loos

Dunkel war es in der Welt. Pandemie, Terroranschläge, Pleiten, Arbeitslosigkeit... und noch mehr. Eine lange Liste. Wer Zeitung las oder Nachrichten schaute, wurde damit konfrontiert - ob man selbst betroffen war oder nicht. Spätestens die Maskenpflicht und die Pandemie-Gebote und -Verbote waren überall zu bemerken. Und trotzdem war es Weihnachtszeit. Wie zum Trotz leuchtete überall die Weihnachtsbeleuchtung - privat wie öffentlich. Als wollte man die bösen Geister vertreiben. Als wollte man sich die Normalität der Weihnachtszeit gerade jetzt nicht nehmen lassen.

In dieser Stimmung machte Petermann jeden Tag einen Spaziergang durch die Stadt. Er versuchte sich von der Weihnachtsstimmung einfangen zu lassen. Doch so richtig wollte es nicht gelingen, nachdem fast alle Geschäfte außer den Lebensmittelläden, Frisören und einigen wenigen weiteren dicht gemacht hatten. Es waren relativ wenige andere Menschen unterwegs. Petermann kaufte Brot und Zeitung, ging dann weiter und schaute zu den Häuserfassaden. Hier brannte hinter den meisten Fenstern Licht, ab und zu bemerkte er das Flackern von Fernsehern, ganz leise tönte hier und da Radiomusik durch Fenster in Kippstellung. Ach wie gemütlich, alle zuhause - dachte Petermann, fragte sich aber, wie es den meisten Leuten so geht in ihrem Quasi-Hausarrest. Plötzlich fand er auf einer Fensterbank in Leibeshöhe einen kleinen Zettel. Er rief laut alle Menschen, die in der Nähe vorbeigingen, zusammen. Einige ignorierten ihn, aber die meisten kamen und versammelten sich um ihn - im gehörigen infektionsvermeidendem Abstand und hörten ihm zu. Einige schauten von ihren Balkonen zu ihm herunter. “Leute, hier hat jemand ein Weihnachtsgedicht liegen gelassen“, sagte Petermann und hielt den Zettel hoch, auf dem einige Verse in kunstvoll geschwungenen Buchstaben zu sehen waren. Ein Kind rief: “Das hat der Weihnachtsmann da hingelegt“. Ein anderes Kind erwiderte: “Nein, niemals. Den gibt's doch gar nicht. Den Zettel hat das Christkind da verloren“. Die Erwachsenen lachten. Petermann jedoch las das Gedicht vor:

Weihnachtsfrieden persönlich

Was jetzt wichtig ist
Wenn Hinz und Kunz nicht täglich durch die Städte rennen
Wenn Du diese Zeilen liest
Und mit Muße in dieser Zeit endlich wirklich Alle erkennen
Was Weihnachten bedeutet Dir
Dann findest Du schließlich hier
Was jetzt wichtig ist

Alle schwiegen zunächst und dachten sichtlich über die Worte nach, dann begannen die ersten zaghaft zu klatschen. Und letztlich klatschten alle dem Vortragenden, der die Verse eindringlich und langsam vorgelesen hatte.

Von da an fand Petermann täglich einen solchen Zettel mit der gleichen künstlerischen Handschrift, aber immer einem neuen Gedicht jeweils an ganz unterschiedlichen Stellen in der Stadt. Und immer rief er alle Leute in der Nähe zusammen, um ihnen das Gedicht vorzutragen. Stets waren es besinnliche Worte, die den Menschen ein wenig Nachdenken brachten.

Natürlich hatte auch die örtliche Zeitungsredaktion bald Interesse daran gefunden und interviewte Petermann. Doch auf die wichtigste Frage, nämlich wer die Gedichtzettel jeweils ablegte, darüber konnte er keine Auskunft geben.

Redakteur Schreiner, der für seine verbissene und etwas sensationslüsterne Art bei Recherchen bekannt war, machte sich auf die Lauer. Aber wo sollte er observieren? Immerhin tauchten die Zettel jeden Tag an einem ganz anderen Ort auf. Nachdem er drei Abende und Nächte vergeblich durch die Stadt gezogen war und die Gedichtzettel dann am nächsten Tag an ganz anderen Stellen von Petermann gefunden worden waren, als dort, wo Schreiner herumlief, wollte er schon aufgeben und überlegte, mit welchen Formulierungen er aus der Herkunft ein Mysterium machen könnte. Als er aus der Redaktion kam, sah er in einiger Entfernung Petermann und beschloss, ihm in gebührendem Abstand zu folgen. Er wollte selbst sehen, wie Petermann die Zettel aufspürte, denn es konnte doch nicht sein, dass Tag für Tag dieselbe Person diese merkwürdigen Gedichtblättchen auffand und sonst niemand.

Auf einmal sah er, dass Petermann an einer Gruppe von Abfallcontainern stehenblieb, sich umschaute und dann aus seiner Manteltasche einen Zettel herauszog. Vorsichtig platzierte er den Zettel auf einem Container und blieb dann stehen, sich ständig umdrehend, ob jemand vorbeikommen würde. Schreiner trat nun in Aktion und fragte Petermann, was er denn da hingelegt hatte. Petermann wurde ein bisschen rot, aber antwortete daraufhin ohne Umschweife: “Ein Weihnachtsgedicht. Das Letzte, denn morgen ist Heiligabend und dann kommt sowieso groß niemand mehr durch die Innenstadt“. Schreiner fragte verwirrt: “Wieso... wieso legen Sie das dahin? Ich dachte, Sie finden die Zettel? Ich verstehe nicht...“. Petermann gestand: “Die Gedichte habe ich doch geschrieben, habe sie dann abgelegt und schließlich selbst 'gefunden' - alles, um den Leuten ein bisschen Nachdenken zu geben und Freude zu machen“. Schreiner war immer noch verwirrt, aber in seinem Kopf wuchs schon eine gute Story. Petermann gab ihm dem Zettel und Schreiner las Petermanns letztes Weihnachtsgedicht, baff erstaunt:

Nur ein bisschen Freude

Hab ich euch doch etwas abgelenkt
Vom Dilemma unserer Tage
Gedichte zum Denken hab ich euch geschenkt
Und euch plagte die Frage:
Wer war das denn? Wer macht sowas?
Und immer derselbe findet's - wo gibt's denn das?
Für mich war es etwas Schabernack - aber euch hat es etwas gegeben
Feiert nun Weihnachten gut und denkt mehr nach über's Leben