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Etwas über Beuys und meinen Vater

Geschrieben von Redaktion am . Veröffentlicht in Wort & Buch

von Gerd Puls

Schwierige Sache, finde ich, das mit dem Beuys.

Foto: Gerd PulsGerd PulsInterpretationsspielraum reichlich, Eindeutiges, zum Glück, ziemlich wenig. Schließlich handelt es sich um Kunst. Schwierige Sache, das merkte schon Bruder Johannes, Wissenschaftsminister anno dazumal, als Politiker, fast ausnahmslos Männer, stets stocksteif im graumäusigen, konservativ-bürgerlichen, oder hochherrschaftlich gediegenen Habitus am Rednerpult standen, noch steifer durch die Gegend stolzierten als heutzutage, noch gestelzter daherredeten und ihre Phrasen und Worthülsen absonderten als heute, 50 Jahre später.

Bruder Johannes kam aus dem Bergischen, hatte es nicht leicht mit dem aufmüpfigen Kunstprofessor vom Niederrhein, geboren in Krefeld, wobei der Joseph doch viel lieber in Kleve zur Welt gekommen wäre, warum auch immer. Am 12. Mai vor hundert Jahren, 1921 war das, mein Vater Heinz wurde ein Jahr später in Westfalen geboren, was erst mal nicht besser, aber auch nicht schlechter war.

Kindheit und Jugend für beide, für Joseph und Heinz, bestimmt keine Idylle. Hineingeboren in eine Zeit, geborgen im Schoß ihrer Familien, das vielleicht. Zugleich bestohlen, ihrer Kindheit, ihrer Jugend beraubt, eingefangen und vereinnahmt vom Nationalsozialismus, für dessen Hitlerjugend sie dann, zehn, zwölf Jahre später, genau das richtige Alter hatten. Zehn oder fünfzehn Jahre alte Jungen, die bis dahin kaum etwas anderes kannten. Strenge in Elternhaus und Schule, vielleicht etwas Religion, vor allem aber Parolen und Einvernahme, verbunden mit Drill und Stumpfsinn an Orten, an denen es eigentlich um Entwicklung, Reife, Bildung gehen sollte, um Menschlichkeit, Geborgenheit, Sicherheit, auch Perspektive. Doch vielleicht fanden sie all das dann genau dort, in den dumpfen Parolen, bei den ritualisierten Zusammenkünften der Pimpfe, auf dem kalten Appellplatz, in den stickigen Stuben der Hitlerjugend, in jener trüben, großsprecherisch-großkotzigen Zeit, und die jungen Kerle waren geblendet, begeistert, gefangen, vereinnahmt, locker einkassiert. Und dann, kaum erwachsen, immer noch so verdammt jung: alles verloren. Ewige Hitlerjungen konntet ihr bleiben, so oder so.

»Erwachsen« war man damals viel früher als heutzutage. Den Eltern nicht mehr auf der Tasche liegen, endlich auf eigenen Füßen stehen, was so die Argumente waren. Das mit dem Erwachsenwerden war meist nur die halbe Wahrheit, schön dahergeredet, nur eine Floskel, irgendwie falsch, verlogen, von außen bestimmt.

Schwierige Sache, das mit dem Beuys.

Die Verhältnisse eben. Damals so, heute eben anders, ließe sich resignierend sagen. Die Verhältnisse eben, die Jungen wie Joseph Beuys oder meinen Vater dann »auf eigenen Füßen« nach Polen und Russland brachten, nach Norwegen, Griechenland oder Nordafrika. Wehrmachtssoldaten, junge Kerle meist, ob sie nun »felsenfest« ans faschistische Großdeutschland glaubten und dafür kämpften oder nur »mitliefen« und dabei manchmal, selten, vielleicht gar zweifelten. Auch das soll es ja gegeben haben, und mein Vater, wenn überhaupt, war vielleicht auch ein »Mitläufer«, vielleicht, weil er nichts anderes kannte. Schwierige Sache. Mein Vater ist nie gern „mitgelaufen“, ist den Zusammenkünften lieber ferngeblieben. Das ist verbürgt, nicht bloß, weil er seinen Ausweis zerknüllte.

Bei Joseph Beuys muss es doch ganz ähnlich gewesen sein, sein Alter, seine Herkunft. Der junge Mann, der Funker und Bordschütze in Hitlers Bomber, der Sewastopol bombardierte und auf dem Rückflug in schlechtes Wetter geriet. Kein schönes, aber ein treffendes Bild, finde ich, das mit dem schlechten Wetter auf dem Rückflug. Das hatte sich doch schon vor Stalingrad längst abgezeichnet, das es umschlagen würde, und es ereilte die Deutschen Landser dann bald an allen Fronten, bei jeder Wetterlage, ob in Nord und Süd, West oder Ost. Glück gehabt schon, wenn es nicht Stalingrad war, wenn man überlebte und die Gefangenschaft nicht von langer Dauer.

Mein Vater war im Norden. Norwegen, Finnland, russische Grenze, Tromsö, Lofoten, Erzhafen Narvik. Strategische Punkte, wie fast jeder Flecken, wenn es nach Hitler und den deutschen Offizieren ging. Stecknadeln auf der Karte. Ein toter Soldat im Schnee, Polarlichter über eisigen Birken, kriechenden Kiefern, Kameradschaft, Holzhütte mit selbstgebauter Sauna. Legenden lassen sich aus allem stricken. Verbrannte Erde auf dem Rückzug. 

Nach dem Krieg hattest du eine Zeit lang Depressionen, Joseph. Wo sollte das hinführen mit dem traurigen, hageren jungen Mann und seiner Kunst? Ganz guter Zeichner. Leben von der Hand im Mund. Deinem Absturz hast du jedenfalls Bedeutung beigemessen und ihn nicht nur einmal mit eingebaut in deine Kunst.

Jeder Mensch ein Künstler. Ich stimme zu. Die Kunst meines Vaters bestand auch darin, dass er an Wochenenden und Feiertagen Zusatzschichten auf der Zeche fuhr, damit die kleine Familie ihr Auskommen hatte, die junge Frau endlich ihr schickes neues Kleid bekam. Auch mein Vater hatte Beklemmungen, hatte Ängste. Wenn er an den toten Russen dachte, an die verbrannte Erde auf dem Rückzug. Als alles doch längst vorüber war und vorbei, und man es am besten rasch wieder vergessen sollte. Manchmal raste dann sein Herz, fehlte ihm die Luft zum Atmen.

Das Erlebte verarbeiten, bewältigen die schlimme Zeit, die Gräuel verdrängen. Mit Starrsinn, Sturheit, Alkohol, mit Gewalt gegen Frau und Kinder womöglich. Da gab es viele. Beuys und mein Vater zählten nicht dazu. Heinz hat gearbeitet, seine Familie, Frau und Kinder geliebt, hat nicht mal geraucht wie der asketische Mann vom Niederrhein, trotzdem früh gestorben, noch keine Fünfzig.

Mit der Kunst gegen den Herzschmerz, gegen Bedrückung und Bedrängnis. Von der Judenfrage reden wir nicht. Probates Mittel. Was lässt sich groß einwenden gegen die Kunst? Wenn das Materielle bloß stimmen würde. Mal zwei Holzschnitte verkauft für 20 Mark, davon wirst du nicht satt. Finanziell auf wackligen Füßen, die Verlobte sagt Lebewohl, Kriegserlebnisse, die nachwirken, weiterwirken, da wächst sich die Krise rasch zur Depression aus.

Als Beuys endlich die Professorenstelle hat, geht es ihm besser, geht es bergauf. Vieles lässt sich erreichen, bewältigen, geraderücken mit Kunst. Sich von einer Lebenskrise nicht kleinkriegen lassen, zur richtigen Zeit am richtigen Ort, dann wird das schon. Den Leuten lässt sich vieles verkaufen, und manchmal sitzt das Geld auch locker. Unter hunderttausend Mark solltest du das nicht verkaufen, das ist eine Marke, Joseph, verkaufe dich nicht unter Wert. Dann die ganze Ausstellung verkauft auf einen Schlag. Ein einzelner Sammler. Leute mit dem richtigen Riecher, die an einen glauben, das Extreme schätzen.

Seinen Kindern baut er in den Räumen der Akademie einen Holzverschlag zum Spielen, mein Vater baut mit mir eine elektrische Eisenbahn auf einer großen Spanplatte, gemeinsam schrauben wir die Schienen fest, beleuchten den Bahnhof, die kleinen Häuschen. Das geht so durch die Jahre, die Fünfziger, Sechziger: Zu Weihnachten jedes Mal etwas für die Bahn. Heile Welt im Miniaturformat, idyllische Berglandschaft aus Pappmaché. Der rote Schienenbus schleppt sich die steile Strecke hoch, fährt über den Viadukt aus hellbraunen Plastik, die Steine wie echt.

Beuys beim Kaffeetrinken, Kirschkuchenessen im Garten des Kurators, Frau und Kinder adrett gekleidet, gesittet bei Tisch, Blümchendecke, akkurat gefaltete Servietten. Bürgerliche Idylle auch hier, Terrassenplatten aus Waschbeton, wackelige Gartenstühle. So war das in der Zeit, hatten wir auch. Als ich seine Installationen zum ersten Mal sehe, bin ich sprachlos, ratlos, leicht befremdet. Als ich ihm auf der Documenta begegne, bleibe ich schüchtern stehen, fehlen mir die Worte, nicht mehr als freundliche Begrüßung. Was wusste ich von angewandter Demokratie. So wenig wie von seinen Zeichnungen, Installationen, dem theoretischen Unter- und Überbau, dem ganzen Spektakel, dem überhöhten bedeutungsschweren Erklärungsansatz.

Von Anfang an warst du bei den Grünen mit dabei. Nichts dagegen einzuwenden, Joseph. Gut singen kann ich auch nicht, ebenso wenig aber hätte ich deinen Mut gehabt, es dennoch mit Überzeugung zu machen. Einfach so, entsetzlich schlecht. Mit Petra Kelly verstandest du dich gut. Als es mit dem Mandat nicht klappte, warst du enttäuscht. Aber dieser esoterische Firlefanz. Anthroposophen, warum musste es ausgerechnet dieser Steiner sein? Bisschen viel deutsches Wesen. Gegen deutsche 7000 Eichen lässt sich nichts sagen. Bäume bloß, die wachsen, wenn sie denn die längst toten Fichten, all die Buchen und Birken, Erlen und Eschen und diese Heißzeit tatsächlich überleben sollten.

Jeder Mensch ein Künstler, klar: The pack, das Rudel. Hinter einem VW-Bulli ein Dutzend Kinderschlitten, Marke Davos. Damit war ich Schulkind damals doch gerade erst über westfälische Rodelhänge geschrammt. Nein, die Schlittenkufen bei Beuys sind breiter, etwas für Profis, für größere Distanzen. Darauf allerlei merkwürdiges Gerät, Suchscheinwerfer und Filzdecken, akkurat zusammengerollt. Truppenbewegung, Militäraktion, denkst du automatisch, gleichförmig ausgerichtet alles. Schon marschierst du mit Beuys an die Front. Ostwärts, Polen, Russland, durch die Sahara bis Tripolis in kurzen Hosen, oder in dünner Uniform über den Polarkreis. Schneebedeckte Öde hier, gleich taucht ein Rudel Wölfe auf. Die wittern Beute.

Überleben in der Tartarenjurte, die doch nur ein deutsches Feldlazarett ist. Noch einmal davon gekommen, Joseph und Heinz.

Jeder Mensch ein Künstler. Jeder Mensch ein Politiker auch. Nicht nur, wenn es nach Beuys geht. Auch wenn du so unpolitisch bist, wie mein Vater es war oder ich es bin. Im Leben meines Vaters kam Kunst so wenig vor wie Politik. Er hielt sich raus, registrierte, was da in Bonn passierte und was in der Welt geschah. War unbeteiligt, höchstens Konsument und Wähler, mehr nicht. Und doch mittendrin. Immer noch Spielball und Opfer, wenn du so willst.

Jeder Mensch ein Politiker, danach handelte Beuys, so schuf er seine Werke, eng angelehnt an die eigene Biografie, an eigenes Erleben. Jeder Mensch ein Künstler. Jeder Mensch ein Politiker, Beuys lebte danach, lebte es vor. Machte den Mund auf, befremdete, verwirrte. Eckte an, rüttelte auf, rüttelte manchen aus dem Schlaf. Alles so einfach, alles mit einfachen Mitteln, mit ursprünglichen Dingen, die die meisten dennoch nicht verstanden, nicht verstehen wollten.

Jeder Mensch ein Künstler, ein Politiker auch.

Und du fragst dich unwillkürlich, wäre einer wie Beuys in dieser verrückten Zeit nicht wieder wichtig, nicht genau richtig? Oder war dieser Beuys in seiner Radikalität bloß ein Schamane, Scharlatan, Querdenker, Vordenker, Schrägdenker, wie es sie immer schon gab, überall gibt?