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Beim Lesen unterm imaginären Schirm kam die Leichtigkeit mit Wortgewalt zurück

Geschrieben von Redaktion am . Veröffentlicht in Wort & Buch

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von Katja Burgemeister | Fotostrecke >>>

Kamen. Die eine hält den Text in die Höhe, direkt vor die Augen. Beim nächsten liegt das Buch auf den Beinen. Andere rezitieren wie aus der Bibel am Stehpult. Beim nächsten Autor kommen Arme, Hände und der ganze Körper zusätzlich zum Textblatt zum Einsatz. Unter dem imaginären Schirm war das Lesen am Sonntag ein wahrlich sinnliches Erlebnis. Schade, dass sich so viele vom nieseligen Herbstwetter davon abhalten ließen.

Denn in der Kirche Heilige Familie, in der Lutherkirche und in der Stadtbibliothek wurde von 5 Autorinnen und einem Autor einiges geboten, vor allem inhaltlich. Viele saßen gefesselt schon vom ersten Text fest und blieben an Ort und Stelle. Andere nutzten die Einladung und schweiften zwischen den Spielorten umher, um mal hier und mal dort Eindrücke aufzusaugen. Beides hatte seinen Reiz und sorgte für ein vielseitiges Literaturerlebnis.

Wer in der Kirche Heilige Familie mit der kleinen literarischen Reise startete, dem fiel es schwer, sich überhaupt wieder loszureißen. Roswitha Quadflieg, Tochter des großen Will Quadflieg, zeichnete hier mit ihrem 17. Buch die düsteren Abgründe der DDR mit Verrats, der Verunsicherung, Misstrauen,  Bespitzelung und mutigem Widerstand nach. Auch deshalb, „weil ich selbst ein Stück Geschichte nachholen musste und deshalb nach Berlin gezogen bin“ – mit einem Fluchthelfer als Partner. Ursprünglich gelernte Grafikerin, ist Roswitha Quadflieg jetzt mit Haut und Haaren Schriftstellerin. Mit Themen, die an reale Leben anknüpfen und beim Schreiben „andere Gedanken ermöglichen und einen anderen Zugang.“ Auch Najet Aouaini aus Tunesien haderte hier vor dem Altar in ihren Gedichten mit der Vergangenheit und der Gegenwart, wenn Sie sich Flügel wünschte, Flammen der Seele ersehnte, ihr Land zurückforderte und Despoten beklagte. Egal ob auf Englisch, Tunesisch oder übersetzt auf Deutsch: Mit den Händen und dem ganzen Körper unterstrich sie, dass es hier um Menschenrechte geht, um Freiheit, um die Gedanken.

Richtig reizvoll wurde der literarische Nachmittag für alle, die auf Reisen gingen. Zufällige verbale Schlaglichter sorgten für Bilder im Kopf, die jeder selbst aufgreifen, fortspinnen, weiterentwickeln und damit in eine eigene Geschichte verwandeln konnte. Stoff dafür boten die Akteure zuhauf. Thomas Bachmann aus Leipzig packte alles kurz und heftig in augenzwinkernde, bitterböse, sarkastische oder einfach nur gutgelaunte Worte, was ihn gerade beschäftigt. Vom Krieg als „hässlichste denkbare Fratze“ über Eisen und Verrat als Zuckerstange bis zur Wette auf die Vorstellung von der Hoffnung: Hier ging es kreuz und quer wie in einem verbalen Blitzlichtgewitter. Begleitet von fulminantem Gesang mit frechem Froschgequake und dem Autor höchstselbst an der Gitarre. Da tat eine gute Portion Harmonie gut, bravourös von Nora Gold und der aufwühlenden Geschichte des „Pomeranzensommers“ aus der Reihe „Windbräuterei“ mit einer schicksalhaften Zugreise in die Tat umgesetzt.

lesenUschirm2 722KBKulturdezernentin Ingelore PeppmeierMultitalente waren sie sowieso alle. Filmer, Fotografen, Musiker, Grafiker, Maler – Künstler eben durch und durch. Dorothea Renckhoff arbeitete lange am Theater, unter anderem als Dramaturgin unter Peter Zadek in Bochum. Opernlibretti, Hörspiele, Theaterstücke, Prosa und Lyrik: Ihre Bandbreite ist fulminant. Am Sonntag ging es mit ihr auf eine ganz eigene Schatzinsel mit opfernden Wassermännern, Türkenmond und Wolken, die sich in den Augen spiegeln, um „das Verborgene als großes Panorama freizugeben“. Ein verbaler Genuss, der von Saxophonklängen eingeläutet wurde und von der Münchener Autorin Vera Botterbusch, Filmemacherin, Regisseurin und Fotografin nebenbei, mit farbenfrohen Bildern Polynesiens eingeläutet wurde.

Bunter und anregender ist ein Literaturnachmittag nicht zu haben. Zum inzwischen dritten Mal, wieder mit mehr als nur engagierten Akteuren, die sich nicht lange bitten lassen mussten. Kamen ist als PEN-„Standort“ über Heinrich Peuckmann längst ein überregional etablierter Literatur-Begriff. Bernhard Büscher, der sich hier als Organisator und Ideengeber einmal mehr besonders hervortat und wochenlang am Telefonhörer hing, resümiert: „Man muss Kamen nicht mehr erklären. Alle wissen, worum es geht – und kommen gern.“ Nicht nur, weil hier inzwischen auch unzählige PEN-Stipendiaten für freie Gedanken und Worte gegen Repressalien und Verfolgung ihre Stimme erheben durften. Auch aktuell wieder.

Das Konzept ging jedenfalls erneut strahlend auf – mit einer „Vielfalt und Tiefe des Programms“, das wahrlich genussreif und beeindruckend war in „bewegten und bewegenden Zeiten“, so Kulturdezernentin Ingelore Peppmeier. Sie wünschte sich angesichts der aktuellen Vorgänge vor allem eins: „Verlieren Sie nicht Ihre Leichtigkeit“. Die nötige Hilfestellung gaben diese Lese-Schirme allemal. Fotostrecke >>>