„Sie foltern das arme Kind!“
Der ältere Mann in seinem Rücken, ziemlich laut. Meint er das liebe Jesulein? So kurz vor Weihnachten? Oder meint er tatsächlich Karl und seine kleine Enkelin.
Einmal über den Weihnachtsmarkt schlendern, er hat es ihr versprochen. Gleich um die Ecke der Holzstall mit Ochs und Esel und dem Stern über dem Dach, der Krippe und den lebensgroßen Pappfiguren.
Folter!? Ob der Rentner das bis auf die Windeln nackelige Jesuskind im Sinn hat? Ob es etwas wärmer liegen soll, seiner Meinung nach? Etwas mehr Stroh? Geißelung und Dornenkrone kamen laut Bibel erst dreißig Jahre später, wenn Karl sich recht erinnert. Kreuzigung, beliebte Hinrichtungsmethode im Alten Rom, vorher die Delinquenten noch gehörig piesaken.
„Sie foltern das Kind!“
Hätte glatt von ihm können, die blöde Bemerkung. Der Mann meint es offenbar ernst. Klar, wenn du, deine Enkel rechts und links an der Hand, über den Weihnachtsmarkt bummelst, kommst du zwischen den Glühweinständne unweigerlich an zwei, drei Bratwurstbuden vorbei, mag der Markt, der Kleinstadt entsprechend, noch so winzig sein. Daran führt kein Weg vorbei.
Karl mag es nicht, von hinten oder schräg von der Seite angequatscht zu werden. Und dann so dummes Zeug. Dafür latscht er doch nicht über den Weihnachtsmarkt. Ohne die Enkel wäre er bestimmt nicht gekommen. Gemütlich ist es allemal. Besonders schön für Kinder. Jede Menge Krimskrams wird angeboten, Alina und Jannis sind begeistert. Glühweinstände und Fressbuden deutlich in der Überzahl. An der Theke der Mann in einer größeren Gruppe. Männlein und Weiblein in fortgeschrittenem Alter prosten sich zu, verbreiten Stimmung, gute Laune. Karl gönnt es ihnen. Wenn er mit den Enkeln über den Weihnachtsmarkt bummelt, hat auch er seinen Spaß.
Die Glühweintrinker heben die Tassen.
„Heute mein zweiter. Hier schmeckt er am besten!“
„ Gehört zum Weihnachtsmarkt einfach dazu.“
„Wärmt schön von innen.“
“Reichlich teuer für ein Gläschen Fusel.“
„Mensch, die Budenbetreiber müssen auch sehen, wo sie bleiben. Bei der Standmiete, die die Stadt verlangt.“
„Hast du aufs Thermometer geschaut? Locker im zweistelligen Bereich.“
„Beim letzten Heimspiel hatten einige Spieler sogar Handschuhe an. Bei zwölf Grad plus, ich bitte dich! Zum Glück knapp gewonnen, auswärts reißen sie gar nichts mehr. Die kleinen Vereine frohlocken, wenn die Punktelieferanten kommen.“
„Haben als Hauptsponsor jetzt den Rüstungskonzern, einfach kein Feingefühl.“
„Woher die wohl den Wein beziehen, schmeckt nicht schlecht.“
„Lenk nicht ab, wenn die so weiterspielen, können sie die Championsleague abhaken nächste Saison.“
„Kein Ballgefühl, sag ich doch.“
„Mittelmaß, wie alles hier.“
Gute Laune sieht anders aus, denkt Karl. Meckern und Verzweiflung, bloß wegen Fußball, nicht zu fassen. Und dann quatscht ihn der Typ dumm von hinten an. Folter? Der Wichtigtuer hat sie nicht alle. Rote Bäckchen hat der Mann. Von der Kälte nicht. Eher ein Glas Glühwein zu viel! Spielt sich auf und gibt den Besserwisser. Rote Nase hat er auch. Hätte gut den Nikolaus spielen können. Kommt ihm mit so einem Blödsinn.
„Sie foltern das arme Mädchen, ziehen es brutal an der Würstchenbude vorbei, gönnen dem Kind nicht mal den Zipfel von der herrlichen Bratwurst!“
Ein alter Mann in seiner ganzen Ahnungslosigkeit. Wenn der wüsste. Die Welt, auch die im kleinen, auch die auf dem Weihnachtsmarkt, ist komplizierter als er denkt. Warum hält er nicht einfach den Mund?
Soll Karl es ihm vielleicht verklickern?
„Sehen sie, meine Enkelin ist ganz zufrieden. Wir sind hier auf dem Weihnachtsmarkt, nicht im sibirischen Straflager oder im amerikanischen Staatsgefängnis. Friede, Freude, Eierkuchen. Bleiben sie mir vom Hals mit Teheran oder Guantanamo. Oder der Türkei, China und weiß der Himmel was!“
Gehen sie mir bloß nicht auf den Senkel! Das Letzte schluckt er runter. Lieber nicht grob werden, einfach freundlich und verbindlich bleiben. Das Fest der Liebe rückt näher mit Riesenschritten, zwei Wochen noch. Karl versucht ein Lächeln.
„Meine Enkelin ist Vegetarierin, müssen sie wissen. Folter wäre, wenn ich ihr so eine Phosphatstange vom Grill zumuten würde, mein Lieber. Zuckerwatte und glasierte Äpfel will sie auch nicht, keine gebrannten Mandeln, keinen klebrigen Lebkuchen fingerdick gezuckert.“
Schon schaut Alina den Mann streng an, erklärt es ihm. Ernsthaft, deutlich, in aller Ausführlichkeit.
„Alles ungesund, müssen sie wissen, Nicht gut für die Zähne. In Gummibärchen ist übrigens auch Gelatine, alles Tierische ist gefährlich.“
„Da hören sie es selbst.“ Karl frohlockt. „Was mischen sie sich überhaupt ein. Bratwurst? Nicht gerade gesundheitsfördernd. Meine Enkelin weiß das. So ungesund wie ihr süßer Glühwein. Das Mädchen ist überzeugte Vegetarierin. In der Kita sitzt sie beim Essen an einem Extratisch. Übrigens auch nicht ganz richtig, Veganer sind schließlich nichts Besonderes, und die Vegetariertische in den Kitas sind in der Studentenstadt, wo die Eltern wohnen, sogar in der Überzahl. Passen sie auf, dass sie das Weihnachtsfest nicht verschlafen.“
Warum muss Karl gleich so bissig sein? Wenn der schlaue Rentner gewusst hätte, wäre er vielleicht still gewesen. Von wegen Folter! Hat er ihm dennoch zu denken gegeben? Womöglich ein schlechtes Gewissen erzeugt. Oder liegt es daran, dass Karl gerne selber eine…? Wo er den Reibekuchenstand bisher noch nicht entdecken konnte.
„Auch wissen sie, früher war ich Grundschullehrer. Ein schöner Beruf, hat Spaß gemacht. Als ich in geselliger Runde einmal angab wie Sülze und behauptete, ich könne ganz gut mit Kindern, meinte jemand, er müsse mich glatt in die Kinderschänderecke stellen. So nach dem Motto: Ich habe es ja immer gewusst, Pädophile gibt es nicht nur in der katholischen Kirche, auch im Turnverein, im Eiskunstlauf, bei Bademeistern. Und natürlich auch in der Schule.
Wenn der Kerl gewusst hätte, dass ich mit Kirche und Priestern nichts am Hut hab, nicht mal schwimmen kann, hätte er vielleicht den Mund gehalten. So hat er mich damals halt kennen gelernt. Sie können mir glauben, dem habe ich es richtig gegeben. Da haben sie heute Glück gehabt mit ihrem harmlosen Folterspruch.“
„Sie foltern das Kind!“
Der Satz hallt nach, obwohl der alte Mann nun endlich Ruhe gibt. Nicht aber Karls kleine Enkelin.
„Opa, was ist Folter, wovon redet der Mann?“
„Ein weites Feld, Alina.“
Wie soll er es der Kleinen erklären, ohne ihr Kindergemüt allzu sehr zu strapazieren. Okay, denkt Karl. Am besten Ablenken, hilft bestimmt.
„Wir können zusammen Pommes essen, Alina, du, dein Bruder Justus und euer Opa. Für jeden eine große Portion mit Mayo und Ketchup. Oder wir teilen uns eine.“
„Na, gut, weil du es bist. Pommes, aber ohne Majo, Opa. Und Teilen muss nicht sein. Für jeden eine, sonst ist es für Justus vielleicht Folter. Und danach zwei Runden auf dem Karussell, die schaffen wir auch noch. Einmal mit dem Feuerwehrauto, einmal mit Biene Maya fliegen.“
„Aber ihr wolltet doch zum Kasperletheater, Alina. Das neue Stück, Flocki, der freche Räuber und die gestohlene Bratwurst!“
„Das klappt schon schon. Gibt ne Spätvorstellung, die verpassen wir bestimmt nicht. Aber, Opa, du lernst es einfach nicht. Im Sommer verwechselst du ständig Bienen und Wespen, wenn mal etwas Gelbes auf deiner Erdbeertorte krabbelt, und jetzt auch noch Bratwurst und Bockwurst. Du musst nämlich wissen, der Hund vom Kasper isst am liebsten Bockwurst, Opa, nicht Bratwurst. Und das Beste kommt noch. Der Kasper meint nämlich, dass dem Flocki auch vegetarische Bockwürste schmecken. Das neue Stück gucken wir uns auf jeden Fall an. Sieh mal, Opa, wenn der Flocki noch in seiner Hundehütte schläft, bedeutet das, dass wir noch reichlich Zeit haben, bis das Theater losgeht. Ist ganz einfach. Und jetzt sag endlich, was ist Folter?“
Wie soll Karl es dem Kind erklären? Ziemlich schwierig, welche Beispiele soll er nennen?
„Also weißt du, Alina, Folter ist etwas ganz, ganz Schlimmes.“
„Opa Karl, das kannst du bestimmt genauer erklären, damit auch Justus es versteht.“
Typisch Enkelin, sie drängelt, bohrt, gibt keine Ruhe.
„Also gut, Alina, meinetwegen, ich nenn dir ein Beispiel. Wenn du Justus nicht mitspielen lässt, oder ihm dauernd etwas wegnimmst. Wenn du deinen Bruder ärgerst und schlecht behandelst. Ihn schubst oder wegstößt.“
Sie guckt groß, schüttelt den Kopf.
„Natürlich, Opa, immer ich! Wenn wir uns auch ab und zu ärgern, Justus und ich, wir haben uns trotzdem lieb und halten zusammen. Wenn das Folter ist, was ich mit ihm mache, hätte Mama es längst gesagt und sofort verboten.“
Karl guckt leicht hilflos. Schlechte Beispiele, allzu pädagogisch, zudem keine echte Folter. Aber mit den fürchterlichen Sachen aus dem Mittelalter, oder mit aktuellen Beispielen weltweit in allen möglichen Ländern darf er ihr nicht kommen. Alles zu grausam für eine zarte Kinderseele.
„Na gut, Opa, ich helfe dir. Folter wäre vielleicht, wenn der Mann mich zwingen würde, so eine Bratwurst zu essen, oder?“
Karl zuckt mit den Schultern.
„Vielleicht, kann sein. Aber pass auf, Alina, anderes Beispiel für Folter. Das verstehst du bestimmt! Also, wenn der Flocki dem Kasper geholfen hat gegen den frechen Räuber oder das gefährliche Krokodil, dann kriegt er doch immer eine Belohnung, nicht wahr?“
„Weiß ich, Opa Karl. Klar, dann kriegt er ne Bockwurst, weil er ein Hund ist und sich freut. Weil er Bockwürste mag und lecker findet.“
„Siehst du, Alina, und wenn der Kasper ihm trotzdem keine Wurst spendiert, dann ist der Flocki traurig, und Hunger hat er auch. Und er denkt, der Kasper will ihn ärgern. Das nennt man Folter.“
„Echt, Opa? Hab ich doch gesagt. Wenn Justus keine eigenen Pommes kriegt. Oder wenn ich eine fette Bratwurst essen soll! Der Mann meinte also nur, du würdest mir kein Würstchen gönnen?“
Sie schüttelt den Kopf, guckt groß mit ihren Kinderaugen.
„Opa, und das soll Folter sein?“
„Ja, wie soll ich es dir sonst erklären? Okay, Alina, ein anderes Beispiel. Wenn der Räuber Omas wunderbare Kaffeemaschine gestohlen hat und Opa morgen früh keinen frischen Kaffee kriegt, dann ist das Folter.“
Wieder verdreht sie die Augen, schüttelt den Kopf.
„Und Schuld hat der Räuber? Weil er der Oma die Kaffeemaschine geklaut hat? Ne, Opa, das nennt man Diebstahl und Entzug. Wenn du den Leuten am Glühweinstand die vollen Gläser wegnehmen würdest, wär das genau so. Flocki und keine Bockwurst-Belohnung, du und dein fehlender Morgenkaffee. Der alte Mann ohne seine Bratwurst mit Senf, die Glühweintrinker nebenan vor leeren Gläsern. Das ist Entzug, haben wir in der Schule gelernt. Entzug, Opa, aber doch keine Folter!
Mama sagt immer, spann mich nicht auf die Folter, wenn sie neugierig ist und unbedingt etwas wissen und erfahren will. Aber jetzt spann du uns nicht länger auf die Folter, Opa, spendier Justus und mir endlich eine Runde auf dem Kinderkarussell.“
„Kinderkarussell? Dafür seid ihr doch schon viel zu groß!“
„Siehst du, Opa, jetzt folterst du uns!“