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Kamener Straßennamen: Bahnhofstraße

am . Veröffentlicht in Stadtgeschichte

von Klaus Holzer

Kamen. An sich ist klar, wo der Name herkommt: die Bahnhofstraße verbindet die Stadt mit dem Bahnhof. Und daher kann der Name auch noch nicht richtig alt sein, denn der erste reguläre Zug, damals die Eisenbahn, fuhr am 2. Mai 1847 durch Kamen. Und das Kamener Bahnhofsgebäude, übrigens nach einem Entwurf im Musterbuch des preußischen Oberbaumeisters Karl-Friedrich Schinkel gebaut, weswegen es auch unter Denkmalschutz steht, entstand erst in den 1850er Jahren, ganz klar ist das Jahr der Eröffnung nicht. Bahnhofsgebäude im Sommer 2012; Photo: Klaus Holzer

Wenn es uns heute so vorkommt, als ob Bahnhöfe (fast) immer in den Stadtzentren angelegt wurden, so täuscht der Eindruck. Anders als ihre Vorläufer, die Poststationen, wurden Bahnhöfe generell weit außerhalb der Städte angelegt, zum einen, weil Fernverbindungen möglichst ökonomische, daher gerade Strecken verlangen, zum anderen, weil die Grundstücke außerhalb billiger waren. Dann wuchsen die Städte auf die Bahnhöfe zu und schlossen sie ein.

Das obere Stück der Bahnhofstraße, vom Markt bis zur Maibrücke, hieß 1423 im Volksmund (amtliche Straßennamen gibt es erst seit 1885) Mühlenstraße, weil an ihrem Ende, an der Seseke und dem aus ihr gespeisten Mühlenkolk, die Kamener Mühle stand (der das Kamener Stadtwappen wahrscheinlich auch das Kammrad verdankt). Die südliche Fortsetzung hieß schon 1792 Mühlen-Steinweg (den Namen gibt es übrigens heute noch, auch wenn er in keinem Straßenverzeichnis auftaucht: es ist der kleine Weg an den GSW vorbei in Richtung auf das Dr.-Nüsken-Gelände), offenbar war er also zu dieser Zeit schon gepflastert. 1794 wurde die Weiterführung als Chaussee nach Unna gebaut.

 

Ursprünglich war die wichtigste Nord-Südverbindung in Kamen die über die Sesekefurt durch das Wünnen- oder Langebrüggentor, die aber im Laufe des 16./17. Jh. durch die durch das Mühlentor ersetzt wurde. Diese hatte sich durchgesetzt, weil sie den direkten Zugang zum Hellweg bot, der damals wichtigsten Handelsstraße zwischen Brügge an der Nordsee und dem Baltikum. Zu Beginn war sie wohl, wie alle Wege, nur ein unbefestigter Weg mit zwei Spuren, von den Wagen ausgefahren, bei trockenem Wetter staubig, bei Regen matschig. Dennoch wurde sie so gut genutzt, daß die Stadt, um ein reibungsloses Ein– und Ausreisen der zahlreichen Kaufleute zu erreichen, dem Stadttor noch ein Homey angliederte, eine Art Vortor, um dort die sogenannte Akzise zu kassieren, eine Steuer auf Waren. Das Wünnentor wurde folgerichtig um 1660 abgebrochen oder zugemauert (der Stadtchronist Pröbsting ist sich da nicht ganz sicher). Und der rege Verkehr hatte auch noch einen zweiten Grund: die Kamener Wochenmärkte waren attraktiv. Hier konnte man Waren kaufen und verkaufen, die Kunden strömten herbei, Läden gab es nicht. Also wurde die Straße umgebaut, als erste in Kamen gepflastert. Pflasterung war etwas besonderes, das drückte sich im Namen aus: jetzt hieß sie Steinweg, das war kürzer als Mühlen-Steinweg, und die Pflasterung das Besondere.

Die Bedeutung des Steinwegs nahm weiter zu, als 1847 die Eisenbahn Kamen „einen Hafen an einem der bedeutsamsten Ströme Europas“ verschaffte (Pröbsting). Und das müssen auch die Kamener gespürt haben. Am Bahnhof begann die Industrialisierung Kamens. Schon 1865 wurde hier das Kamener Gaswerk gebaut, weitere Industrie siedelte sich hier an: Jellinghaus, Winter, Wönkhaus, Fischer, Vohwinkel, Klein & Söhne, die Schuhfabriken von der Heide und Henter. Und die Zeche wäre ohne die neue Transportmöglichkeit kaum so rasant gewachsen. Schließlich gab es am Bahnhof auch eine Molkerei (1891) und einen Schlachthof (1895).

Und weil sich damit das Leben in der damals noch agrarisch geprägten Ackerbürgerstadt grundlegend veränderte – Wohnen und Arbeiten wurden getrennt; das rasante Wachstum der Bevölkerungszahl erlaubte es auch nicht mehr, alle Arbeiter direkt vor den Fabriktoren wohnen zu lassen – bedurfte es eines funktionierenden öffentlichen Personennahverkehrs. Blick in Richtung Maibrücke, vermutl. 30er Jahre; Photo: Archiv Klaus Holzer Ab 1909 fuhr die Kleinbahn UKW (Unna – Kamen – Werne) zunächst von Unna nach Bergkamen, ab 1911 über Rünthe weiter nach Werne, insgesamt 14 km. In Kamen fuhr die Straßenbahn, nachdem sie die Eisenbahn überquert hatte, den Bahnhof an, dann durch die Bahnhofstraße, deren Pflaster jetzt Bahnschienen erhielt, über den Markt, durch den Geist, scharf nach links in die Weststraße (so scharf, daß sie oft in der Kurve aus den Schienen sprang. Dann wurde sie unter großem Beifall mit Hilfe von Eisenstangen wieder in die Gleise gehievt), ganz hindurch bis zum Depot an der Lüner Straße, durch die Bambergstraße auf den Nordberg in Bergkamen, über die Werner Straße zum Bergkamener Bahnhof, danach durch Rünthe nach Werne.

Um 1880 erhielt die Bahnhofstraße ihren heutigen Namen. Und alle diejenigen, die das Hereinbrechen der neuen Zeit als Chance begriffen, auch für sich selber etwas Neues zu beginnen, bauten neue, prächtige, große Villen an die Bahnhofstraße. Hier lag die Zukunft, da wollte man dabei sein. Wie attraktiv diese Aussicht war, zeigt der Fall des damaligen Bürgermeisters Heinrich Weber, der ein Grundstück samt Baugenehmigung am Markt an die Familie Markus verkaufte und lieber an die Bahnhofstraße zog. Heute stehen zehn von ihnen unter Denkmalschutz. Hier entstand 1895/96 das neue Amtsgericht, nachdem sich das 2. OG im (alten) Rathaus, seit 1878 Amtsgericht, als zu klein erwiesen hatte. Hier errichtete die Reichspost ein neues Postgebäude (1901). Ein Ackerbürgerhaus, ca. 1905, heute neben der Hochstraßenauffahrt; aus: Kamen in alten 	  Ansichten, Zaltbomme, 1976 In diesen Jahren gab es ein malerisches Nebeneinander von modernen Jugendstilvillen und dem einen oder anderen übriggebliebenen Ackerbürgerhaus, z.B. Haus Nr. 16 (Weskamp).

Anfang April 1945 spielte die Bahnhofstraße wieder eine Rolle, als amerikanische Panzer in langer Kolonne, unter lautem Grollen und Rasseln ihrer Ketten, über die Bahnhofstraße in die Stadt rollten. Wir Kinder hockten auf den Fensterbänken, hinter den Gardinen, und beobachteten fasziniert, was vor sich ging, wohl ohne zu begreifen, was es bedeutete.

Jahre später, als die nach dem Kriegsende zusammengebrochene Versorgung wieder funktionierte, kam täglich Herr Biermann aus Overberge mit seinem Pferdewagen durch die Bahnhofstraße. In einem Edelstahltank brachte er frische Milch aus der Kamener Molkerei. Und aus allen Häusern kamen die Kunden und ließen sich ihre Menge Milch abzapfen und in mitgebrachte Kannen füllen. Und wir Kinder wunderten uns, wieso ein Biermann Milch brachte.

Und die Gegenwart bringt erneut eine zeitgemäße Veränderung. Die autogerechte Stadt, das Ideal der Nachkriegsjahre, ist überholt. Der Mensch ist wieder in den Mittelpunkt der Gestaltung der Städte getreten, Anwohner– und Fußgängerbereiche werden ausgebaut. Die Bahnhofstraße wird wieder umgebaut, für den Durchgangs– und Lastwagenverkehr gesperrt. Das Rathaus wird an die Innenstadt angebunden, mit ihm auch der Bahnhof. Zur Erinnerung an die Straßenbahn wird eine Schiene im neuen Pflaster verlegt, die zweite durch die Pflasterung angedeutet.  Wir haben heute zwar fast alle Autos und können jedes Ziel erreichen, doch wird der öffentliche Personennahverkehr bald wieder die Rolle spielen, die er vor 100 Jahren hatte. Ein Rückschritt, der gleichzeitig ein Fortschritt ist, abzulesen an der Bahnhofstraße. Jede Zeit bewerkstelligte den für sie richtigen Umbau. Wie lange wird der jetzige halten?