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775 Jahre Kamener Stadtmauer

am . Veröffentlicht in Stadtgeschichte

von Klaus Holzer

Es gab keinen Bebauungsplan, keinen Planfeststellungsbeschluß, keinen Bauantrag, nichts, das uns heute über das größte Bauprojekt in Kamens Geschichte etwas Konkretes berichten könnte. Ein Bauwerk, das schon ganz am Anfang von Kamens Geschichte steht: die Stadtmauer. Wir wissen nicht das genaue Datum, wann sie gebaut wurde, doch gibt es Anhaltspunkte, die uns eine Annäherung erlauben, wie es auch Anhaltspunkte gibt, die uns eine Annäherung an das Datum von Kamens Stadtwerdung erlauben. Wir wissen nicht, ab wann genau Kamen sich „Stadt“ nennen durfte, nehmen aber das Datum des ersten (bekannten) Stadtsiegels von 1284 als das Jahr, von dem an Kamen Stadt war. Es ist aber gewiß, daß 1284 die Stadtmauer längst existierte, Kamen also de facto längst eine Stadt mit allen Rechten war.

Um dem Datum näherzukommen, müssen wir uns zuerst weiter entfernen. Der Anfang des 13. Jh. war eine Zeit voller kriegerischer Auseinandersetzungen. Territorien, und damit Machtverhältnisse, mußten erst noch arrondiert werden.

Territorialstreitigkeiten prägten das gesamte 13. Jh.. Der Erzbischof von Köln, seit 1180 gleichzeitig Herzog von Westfalen, lag im Dauerstreit mit den Grafen von Isenberg-Altena. Einer dieser Isenberger Grafen ermordete den Kölner, wurde im Jahr darauf gefaßt und aufs Rad geflochten. Sein Bruder wollte den belasteten Namen loswerden und nannte sich von der Mark. Doch focht man munter weiter, bis es am 1. Mai 1243 zu einem Friedensvertrag kam. Darin beurkundete Bischof Engelbert von Osnabrück den Vergleich zwischen Dietrich von Limburg und Adolf von der Mark wegen der Isenbergschen Güter. Es wurde u.a. festgelegt, daß Adolf seine Städte Kamen und Hamm (man beachte die Reihenfolge!) befestigen durfte. „Ebenso wird Theodor zu Isenburg keine neue Befestigung errichten oder eine alte wiederherstellen, und auch Graf Adolf wird nichts befestigen außer in Kamen und Hamm,“ heißt es im Friedensvertrag. Man kann also mit Fug und Recht sagen, daß am 1. Mai 2018 unsere Stadtmauer, d.h., der kleine noch vorhandene Rest in der Ostenmauer, 775 Jahre alt wird. Klaus Goehrke geht in seiner Kamener Stadtgeschichte „Burgmannen, Bürger, Bergleute“ sogar so weit, zu sagen: „Der Vertrag vom 1. Mai 1243 kann als Geburtsurkunde Kamens gelten.“

Altstadt KamenKH

Abb. 1:  Die Stadtmauer in ihrer gesamten Länge, aus Theo Simon, Kleine Kamener Stadtgeschichte, Dortmund 1982

Die originale Kamener Stadtmauer war 2,04 km lang, 16 Fuß (etwa 5m) hoch und 3 Fuß (knapp 1m) breit, gerade so hoch, daß man einen guten Blick auf das davor liegende Gelände hatte und die Patrouillen mit ihrer Bewaffnung sicher auf ihr entlang gehen und im Verteidigungsfall auch kämpfen konnten. Und davor waren noch Stadtgräben und palisadenbewehrte Wälle. Kamen war, bevor es Kanonen gab, so gut wie uneinnehmbar. Das kleine, heute noch sichtbare Stückchen Mauer hat nur zwei Meter Höhe. Doch wo sind die restlichen drei Meter geblieben? Nun, Kamen, ist im Laufe seiner Stadtgeschichte 11 mal abgebrannt, und man hat es immer wieder auf den Brandresten aufgebaut. Die drei fehlenden Meter sind also unter der Oberfläche noch vorhanden, unserem Blick verborgen. Was wir sehen können, ist allerdings ein auffälliges Stück aus neuen Ziegeln. Hier mußte eine Bresche repariert werden, die eine Bombe im Februar 1945 in die Mauer geschlagen hatte. Und noch etwas besonderes gibt es hier: an ihrem östlichen Ende wächst das in der homöopathischen Medizin noch heute verwendete Kleine Habichtskraut, soweit bekannt, die einzige Stelle im Kreis Unna.

Man muß sich einmal klarmachen, mit was für einem Aufwand so ein Mauerbau verbunden
war. Eine Mauer wie die Kamener umfaßte ein Volumen von ca.10.000 cbm Stein, der von weither per Ochsenkarren herangeholt, auf der ganzen Länge verteilt, aufs Gerüst gehoben und vermauert werden mußte. Und das alles in nur vier Jahren! Es dürfte deutlich sein, was für eine ungeheure Leistung die Kamener zwischen 1243 und 1247 vollbrachten.

Stadtmauer Kamen heuteKH

Abb. 2:  Das letzte Stück Kamener Stadtmauer

Auch wenn man im MA Latein als lingua franca sprach, die selbstverständlich auch die Sprache der Verträge war und man also wußte, daß pacta sunt servanda, hielten Verträge schon damals nur so lange, wie es den Vertragspartnern opportun erschien. Die latente Rivalität zwischen Köln und den westfälischen Grafschaften brach in den 1270er Jahren wieder auf. Doch die westfälische Front bröckelte. Adolf von Berg söhnte sich mit dem Erzbischof von Köln wieder aus, Eberhard I. von der Mark sah sich zu Verhandlungen gezwungen. Am 15. Juni 1278 schloß man einen Friedensvertrag, in dem Eberhard das Versprechen abgeben mußte, die Stadtmauer u.a. von Kamen zu schleifen. Was Eberhard natürlich gar nicht wollte und auch nicht tat.

 

Nur neun Jahre später brach erneut Krieg aus. Die westfälischen Grafen hätten gegen den mächtigen Kölner nur geringe Chancen gehabt, wenn der Märker nicht in der Gunst Kaiser Rudolfs ganz hoch gestanden hätte. 1287 fielen kölnische Reiter aus der Burg Recklinghausen in die Grafschaft Mark ein. Als Graf Eberhard davon hörte, sammelte er eiligst bewaffnete Reiter, ritt den Bischöflichen entgegen und schlug sie vernichtend bei der Burg Ahsen an der Lippe.

Erst nach der alles entscheidenden Schlacht bei Worringen am 5. Juni 1288 setzten sich die Westfalen gegen Köln endgültig durch. Der Friedensvertrag vom 19. Mai 1289 gestattete es Graf Eberhard, in seinem Lande Burgen und Befestigungen nach freiem Ermessen anzulegen. Kamen durfte seine Stadtmauer behalten, die es unter so großen Mühen mehr als 40 Jahre vorher gebaut hatte. Am 19. Mai 2019 ist es also 730 Jahre her, daß unsere Stadtmauer endgültig stehen bleiben durfte.

Fast 400 Jahre lang stand die Mauer, die Stadt gedieh in ihrem Schutz, bis zum Dreißigjährigen Kriege, als Kanonen sie wirkungslos werden ließen. Sie schossen über sie hinweg oder Breschen in sie hinein. Ihre Schutzwirkung ging verloren, Kamen wurde mehrfach von kämpfenden Truppen besetzt und geplündert. Die Mauer verfiel, endete als Steinbruch für die Kamener, die hocherfreut die Steine nun für ihre Bauten verwendeten.

Der Erlaß der Preußischen Staatsregierung vom 20. Juni 1830, den Abriß vieler mittelalterlicher Stadtmauern zu verhindern, allerdings aus steuerlichen, nicht aus historischen Gründen, kam für Kamen zu spät. Der erste Kamener Stadtchronist Friedrich Buschmann schreibt in seiner Geschichte der Stadt Camen: „Ein großer Theil der Stadtmauern wurde nun (Anm.: in den 1780er Jahren) geschleift, und nur noch ein kleiner Rest der alten Mauer, an der Südwestseite der Stadt, hat eine ansehnliche Höhe.“ Und schließlich: „Zur Verschönerung der Eingänge der Stadt wurden, in den Jahren 1820 bis 1822, die Thorhallen und Thürme weggebrochen.“

Gegen Ende der 1820er Jahre wurden Häuser auf die Stadtmauer gesetzt, der alte Verlauf zeigt sich in den Straßennamen Osten–, Norden– und Westenmauer. An der Ostenmauer stehen noch heute viele dieser kleinen Handwerkerhäuschen, im weiteren Verlauf wurde wiederholt neu überbaut. Noch in den 1960er Jahren wurden Stücke der Mauer zugunsten modernen Hausbaus abgerissen. Was für ein prosaisches Ende einer einstmals gloriosen Stadtmauer!

Abb. 1: aus Theo Simon, Kleine Kamener Stadtgeschichte, Dortmund 1982
Abb. 2: Photo Klaus Holzer