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100 Jahre Dammbruch an der Seseke

Geschrieben von Redaktion am . Veröffentlicht in Stadtgeschichte

KHAbb 1 Hochwasser mit Dammbruch223Der Dammbruch vom 2. Februar 1923. Foto: Stadtarchiv Kamen

von Klaus Holzer

Kamen. Wir haben uns daran gewöhnt, wir kennen es gar nicht mehr anders: es mag regnen, soviel es will, die Seseke bleibt in ihrem Bett. Seit 2008 ist sie renaturiert, und trotz der immensen Kosten von 500 Mill. Euro ist der Umbau jeden Pfennig wert. Kein Wasser mehr im Keller, viele Kilometer Wander- und Radwege.

Das war aber nicht immer so. Am 2. Februar vor genau 100 Jahren schaffte es dieses Flüßchen, zu einem reißenden Strom zu werden, der alles mitriß, was sich ihm in den Weg stellte.  Aber der Reihe nach.

Vor der Mitte des 19. Jh. einsetzenden Industrialisierung war die Seseke ein ruhiger Flachlandfluß, der zweimal im Jahr die Mersch überschwemmte. Das wußte und kannte man, damit konnte man umgehen. Die alten Fachwerkhäuser in der Innenstadt hatten u.a. deswegen keinen Keller. Die zu trocknen wäre viel schwerer gewesen, als das Wasser aus dem Erdgeschoß nach draußen zu schieben.

KHAbb 2 Ein neues Bett223Bauarbeiten Ende der 1920er Jahre; so wurden die Betonsohlschalen eingebettetAlles änderte sich mit dem Einzug der Zeche Monopol in Kamen 1873. Die Kohle, die aus dem Gebirge unter Tage gefördert wurde, hinterließ Hohlräume, die nach und nach einbrachen und über Tage zu Bergschäden führten. Es entstanden Senken, Bäche veränderten ihren Lauf. Überall sammelte sich Wasser, stand in den Mulden, was besonders im Sommer zu Mückenplagen führte. Im stehenden Wasser sammelten sich Schmutz und Fäkalien. Heute haben wir Auspuffgase von Autos, damals den Kot von Tieren und, ja, wohl auch Menschen. Die Kanalisation war erst in ihren Anfängen, sie wurde erst nach dem II. Weltkrieg fertiggestellt. Kleine Kinder spielten draußen, meistens barfuß, weil Lederschuhe teuer waren und allenfalls an Sonntagen zum Kirchgang getragen wurden, und in den üblichen Holzschuhen war das Spielen so eine Sache. Und die kleinen Kinder kümmerten sich kaum um hygienische Verhältnisse, wußten nichts von Infektionen und Seuchen, steckten sich an, trugen ihre Krankheit nach Hause, wurden zum Ausgangspunkt von Seuchen. Der, wie wir heute sagen Kippunkt, kam im Oktober 1905, KHAbb 3 1960 Dezember Hochwasser223Erste Dezemberwoche 1960: die Badeanstalt im Hemsack unter Wasser, nicht etwa das Schwimmbeckenals die Zeche Königsborn III/IV, Schacht Bönen, eine riesige Menge Ammoniak in den Fluß leitete und diesen in ein totes Gewässer verwandelte. Die Märkische Zeitung schrieb wiederholt zu diesem Thema: „Unsere Sesike ist jetzt ein totes Wasser geworden, kein lebendes Wesen, weder Fisch noch Frosch, noch sonst ein Tierchen macht sich darin bemerkbar. … Viele Zentner der schönsten Fische aller Art, sowie Millionen kleiner Fische, der jungen Brut, bedeckten die Oberfläche des Wassers und wurden von zahllosen Fischliebhabern aufgefangen und als gute Beute heimgeholt.“ Und: „Die Industrie begrüßen wir als lebenweckenden Faktor mit Freuden, aber sie darf nicht tötend und verderbenbringend werden.“ Aber die Zechenbarone lehnten jede Verantwortung ab und weigerten sich, Schadenersatz zu leisten. Jetzt war den Kamenern ein großer Teil ihrer Nahrungsgrundlage entzogen. Noch der Stadtchronist Pröbsting berichtete in den 1830er Jahren von Fisch-, Muschel- und Krebsfängen in der Größenordnung von Zentnern an einem Tag.

Also wurde 1913 die Sesekegenossenschaft mit dem Ziel gegründet, den Fluß zu regulieren. Die Grundüberlegung: stehendes Wasser führt zu Hygieneproblemen, schnell abfließendes Wasser ist die Lösung. So wurde die Seseke ab 1925 in Betonsohlschalen gezwängt. Doch erkannte man sofort, daß es kein isoliertes Wassersystem gibt, daß Abhilfe nur geschaffen werden konnte, wenn man das Flußsystem der Lippe, zu dem die Seseke gehört, insgesamt behandelt. Also schlossen die Kamener sich dem 1926 KHAbb 4 Dortmunder Allee223Erste Dezemberwoche 1960: Die Dortmunder Allee unter Wassergegründeten Lippeverband an. Der Bau des Klärwerks 1942 vervollständigte die Maßnahme. Nun floß das Wasser ab, aber es gab keinen natürlichen Fluß mehr. 80 Jahre lang würde die Seseke eine offene Kloake sein, die in einem trockenen Sommer erbärmlich stank.

Und wegen ihrer hohen Fließgeschwindigkeit war sie sehr gefährlich geworden. Sie bot kein Ufer mit festem Halt mehr. Noch 1998 ertrank ein Kind in ihr.

Anfang Februar 1923 hatte es tagelang geregnet. Die Sesekeumbauarbeiten waren gerade am Mühlenkolk der Mühle Ruckebier angelangt. Hier wurde der Fluß durch einen Stadtgraben eingeengt. Um arbeiten zu können, legte man einen Umflutgraben an, der durch einen Damm gesichert wurde. Der würde halten, war man überzeugt. Doch „do kennt dä Lüe (Leute) user Sesike schlecht,“ sagte ein alter Kamenser. Und dann geschah es: „Da sprang gestern um die erste Mittagsstunde der Damm mit Krach und Getöse entzwei. Die Wassermassen setzten sich mit aller Kraft durch und nahmen die schweren Balken, die Bretter und Brettchen mit Leichtigkeit mit.“ (Kamener Zeitung, 3. Februar 1923)

Merkwürdigerweise war genau das gleiche 125 Jahre vorher bei einem Umbau schon einmal geschehen.

Im Jahre 2012 gab es zum letzten Mal richtig hohes Wasser, doch richtete es in der Stadt keinen Schaden mehr an. Die vielen, die Renaturierung der  Seseke begleitenden Maßnahmen, erfüllen ihren Zweck: Hochwasserrückhaltebecken, Regenwasserbehandlungsanlagen, Stauraumkanäle usw. verfügen über ein Fassungsvermögen von Millionen Kubikmetern Wasser, das zurückgehalten und kontrolliert wieder zugeführt werden kann. Aber denken wir ans Hochwasser vom Sommer 2021, wer kann sicher sein, daß nicht auch die Seseke wieder einmal Kamen unter Wasser setzt? Wie zuletzt in der ersten Dezemberwoche 1960.

KHAbb 5 Sesekehochwasser223Früher ein gewohnter Anblick: Blick aus dem Mersch in Richtung Bahnhofstraße, die Kuppel links der Mitte ist die neue Synagoge

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