Musikkritik: 1. Sinfoniekonzert: „Planeten und Sonnen, welche kreisen“
von Dr. Götz Heinrich Loos
Kamen. „20 Jahre Neue Philharmonie Westfalen“ – ein Grund zum Feiern für 20 Jahre nach einer gelungenen Orchesterfusion, bei der der Kreis Unna als einer der Träger des vormaligen Westfälischen Sinfonieorchesters (dieses wiederum hervorgegangen aus dem Kreisorchester Unna) maßgeblich beteiligt war. Unter dem Jubel-Motto steht natürlich auch die neue Spielzeit der NPW. Und gleich zu Beginn ein Knüller zur Feier: Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 8 Es-Dur; hinter dieser nüchternen Bezeichnung firmiert eines der von der Besetzung her umfänglichsten und im Klang gewaltigsten Werke der finalen Spätromantik. Und da es eines meiner Lieblingswerke ist, das ich in früher Jugend manchmal ununterbrochen tagelang hörte, war ich mehr als erfreut als ich von der Aufführungsabsicht hörte. 1030 Musikerinnen und Musiker (davon der Löwenanteil Ausführende im Chor) waren es 1910 bei der Uraufführung in München. Ganz so viele kamen bei dieser Aufführung nicht zusammen, aber es reichte, um die Platzmöglichkeiten der Kamener Konzertaula wie auch des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier zu sprengen. Also gab es für die Besucher von Kamen aus einen kostenfreien Bustransfer zu einem geeigneten Aufführungsort, dem Ruhrfestspielhaus in Recklinghausen.
Mahler hatte das Werk 1906 in einer Art „Schaffensrausch“ in zwei Monaten komponiert und war selbst von seinen kompositorischen Leistungen überwältigt. Logistische und andere Probleme verhinderten jedoch eine rasche Uraufführung, erst am 12. September 1910 – also vor genau 106 Jahren – konnte Mahler das Werk aus der Taufe heben und seinen größten Erfolg bei einer Aufführung eines seiner Werke einfahren. Dem damaligen Publikum mag schon bei der Uraufführung das riesige Podium mit vor allem seinen Chormassen einen tiefen Eindruck beim Eintreten in den Saal vermittelt haben; mir ging es jedenfalls hier so und unbestreitbar war auch, dass der Platz auf der Bühne gerade so ausreichte, alle unterzubringen. Bevor das Konzert startete, gab es ein Grußwort des Bürgermeisters von Recklinghausen Christoph Tesche, der die zuständige Ministerin Christina Kampmann aus Krankheitsgründen entschuldigen musste, so dass eine Festrede ausfiel. Ein wenig Prominenz, neben den Kultur- und Orchestervorständen u.a. Minister Rainer Schmeltzer und Kreisdirektor Thomas Wilk, konnte er dennoch begrüßen. Man hätte sich allerdings erheblich mehr Beteiligung der heimischen Kreistagsabgeordneten gewünscht, von denen man im Publikum nur ganz Vereinzelte sehen konnte. Während der Bürgermeister freilich weitestgehend die positiven Aspekte der Orchesterfusion betonte, erwähnte Orchestermusiker und -vorstand Rainer Nörenberg in einer nachfolgenden Ansprache auch unrühmliche Vorgänge im politischen Raum, die immer wieder das Fortbestehen des Orchesters bis in die jüngste Zeit in Frage stellten. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die Streichung bzw. vereitelte Wiederbesetzung von Stellen im Orchester die Qualität der Aufführungen zu beeinträchtigen droht. Dies wirkte sich – zumindest theoretisch – schon bei dieser Aufführung aus: Mahler verlangte z. B. eine deutlich größere Streicherbesetzung und mindestens vier Harfen, nicht wie hier eine oder zwei! Wenn schon keine Bereitschaft besteht, Stellen (wieder) neu zu schaffen, muss doch zumindest Geld für Gastmusiker bereitgestellt werden, damit die Vorgaben des Komponisten erfüllt werden! Allerdings brauchte die Neue Philharmonie Westalen bei Mahlers „Symphonie der Tausend“ auch so zwingend Gastmusiker, da neben der „üblichen“ Orchesterbesetzung Mandoline, Harmonium, Orgel, Klavier sowie Celesta nötig waren; diese waren natürlich präsent – wie auch einzelne Verstärkungen in den „normalen“ Stimmen.
Nun aber startete der erste Teil: Der Pfingsthymnus „Veni, creator spiritus“ – mit voller Wucht aus Orgel und Riesenchor – setzte schon zu Beginn Maßstäbe; zunächst aus der Komposition heraus, so dass man hier im maximalen Fortissimo kaum interpretatorische Fehler begehen kann. Rasmus Baumann als musikalischer Gesamteiter, hoch konzentriert, ließ in den nächsten Takten keinen Zweifel daran, dass er zumindest für den ersten Teil ein etwas angezogenes Tempo bevorzugte. Nach und nach setzten nach Vorgabe gesanglich die verschiedenen Stimmen ein: Zunächst Teile der riesigen Chorgemeinschaft, mehr oder weniger umfangreich von den Beteiligten her bis hin zum Gesamteinsatz – bestehend aus dem Opernchor des Musiktheaters im Revier (einstudiert von Alexander Eberle), des Chors der Universität Duisburg-Essen, des Konzertchors Unna (beide einstudiert von Hermann Kruse), des eigens eingerichteten Projektchors „Sinfonie der Tausend“ (einstudiert von Christian Jeub), des Knabenchors und der Jugendkantorei Gütersloh (beide von Sigmund Bothmann einstudiert). Dann die durchgehend angemessenen und wirklich passend schön und kraftvoll klingenden Stimmen der Solistenschar: Karen Ferguson (als Ersatz für die erkrankte, ursprünglich vorgesehene Christiane Kohl) und Manuela Uhl als Sopranstimmen, Gudrun Pelker und Almuth Herbst als Altstimmen sowie Kor-Jan Dusseljee (Tenor), Urban Malmberg (Bariton) und Michael Tews (Bass). Besonders die unendlichen Reihen der Chorsängerinnen und -sänger ließen einen einfach nicht näher beschreibbaren Eindruck: das wechselnde Aufstehen und Setzen der jeweils gefragten Gruppen innerhalb einer vielstimmigen Gemeinschaft wirkte so mächtig; dabei ließ der Gesang nicht nach oder konzentrierte sich zu einseitig – eine raffinierte Aufstellungsplanung war hierfür verantwortlich.
Im Einführungsvortrag hatte Roland Vesper darauf hingewiesen, dass der GMD besonderen Wert auf die Herausarbeitung der zarten, leiseren Stellen legte. Das war im Pfingsthymnus doch eher beschränkt festzustellen, aber aufgrund der Tatsache, dass hier glanzvolle, kräftige Partien vorherrschen. Und wird es dann doch einmal leiser und düsterer, setzt wieder ein hochdynamischer Aspekt ein – so besonders das mit Schlüsselrolle ausgestattete „Accende lumen sensibus…“ und zum Ende hin das „Gloria Patri Domino“ – beide mündend wieder im „Veni, creator spiritus“ und damit ihre Bedeutung unterstreichend. In Glanz und Lautstärke endet damit der erste Teil, allerdings noch eine Überraschung bergend: Ein Trompeten-Posaunen-Ensemble steht auf der Empore über dem Publikum und ergänzt das Orchester auf der Bühne bei diesen letzten Takten – und der Klang wird noch mächtiger.
Der Beginn des zweiten Teils, der Schlussszene aus Goethes Faust (II), beginnt hingegen leise und mysteriös… und rein instrumental. Das streicherflirrende und von Holzbläsern ausgestaltete, inzwischen wieder recht kräftig angezogene Ende des Hauptmotivs gehört zu den berührendsten musikalischen Partien im Hinblick auf ein melancholisch- freudiges Wechselbad. Baumanns Vorgaben hätten hier vielleicht ein bisschen Abbremsung erfahren sollten, damit die Wirkung der Akkorde stärker ausgefallen wäre. Aber es gibt an sich keinen Grund zur Unzufriedenheit – es war berührend! Und so erscheinen in diesem zweiten Teil öfters Abschnitte mit sehr wohlig klingenden, zarten Melodien – der Goethe-Text wirkt dabei, als gehöre er wie natürlich dazu; wie Mahler es meinte, so konnte man es hier hören: Der Gesang wird zu „Planeten und Sonnen, die kreisen“, zauberhaft entrückt, abgehoben, Sternenklänge. Dazu zählen jedoch auch instrumentale Partien wie die Pikkolo-Flöten-Harfen-Celesta-Klavier-Melodie kurz vor Beginn des abschließenden „Chorus Mysticus“ – eine mit äußerster Zurückgenommenheit und Zartheit, ja Zärtlichkeit, plätschernde Quelle… Schließlich nicht minder berührend ist dann der kurze Einsatz der „Mater Gloriosa“ auf der Empore, sehr lieblich gesungen von der dritten Sopranistin Marie Heeschen. Das sanfte Raunen des „Chorus Mysticus“, das mir schon in Erwartung einen angenehmen Schauer über den Rücken laufen ließ, führt schließlich zum Abschluss und zur Kernaussage („Alles Vergängliche...“) – nochmals in einem gewaltigen, allmählichen Anstieg der Dynamik bis hin zu einem glänzenden und sehr kraftvollen Schluss, der den eigenen Körper wiederum elektrisiert (nicht zuletzt durch das Bassdröhnen der Großen Trommel und der Tamtam-Schläge).
Bei einer analytisch-bewertenden Gesamtschau lohnt es sich kaum, die Interpretation weiter aufzuschlüsseln – bis auf kleinste (!) Details, von denen ich eine andere Vorstellung habe, war diese Aufführung grandios und überwältigend (im positiven Sinne, selbstverständlich…) – und schließlich weitestgehend genau so, wie ich sie gern mag; alle Beteiligten haben Bestes gegeben und erreicht. Der lange Applaus und die stehenden Ovationen waren das Mindeste, was das Publikum dankbar zum Ausdruck bringen konnte. Was kann dann noch positiver sein, als dass ein Kenner des Werks mit dem Kopf voller Melodien eben dieser Interpretation leise pfeifend zum Bus stapft…