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Musikkritik: Sinfoniekonzert der Neuen Philharmonie: "Anachronismus" - mit Cembalo und Haydn-Imitat zu Einblicken in eine rückschauende Zeit

am . Veröffentlicht in Musik

Musik Datei176696959 Urheber abstract fotoliaDatei: #176696959 | Urheber: abstract | fotolia.comvon Dr. Götz Loos

Unter der Leitung von Gastdirigent Hermann Bäumer und mit Solistenrolle des Cembalo-Experten Christian Rieger war allein das Studium des Programms des vierten Sinfoniekonzertes der Spielzeit 2018/19 der Neuen Philharmonie Westfalen ein Genuß. "Anachronismus" war das Konzertmotto - mit vier Werken, allesamt aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhundert, die Bezug auf frühere Jahrhunderte nehmen. Bezug nehmen heißt aber nicht imitieren, jedenfalls bei drei der Werken - und eine Rückkehr zu barocken Formen gab es beileibe nicht. Die "neue Einfachheit" hat Motive, Instrumente, Ensemblebesetzungen, Tänze bzw. Satzbezeichnungen und auch ganze Werkanlagen aus Barock und Klassik übernommen, nicht aber die musikalischen strengen Techniken - und war deshalb anders, eben neu. Eine Ausnahme macht hier das zuletzt gespielte Werk, die erste Sinfonie von Prokofjew, die "Symphonie classique", die schon sehr stark an Joseph Haydns Kompositionsstil angelehnt ist. Aber auch hier ist es ein Stilimitat, kein Plagiat. Das Moderne in diesem Werk äußert sich in einer Transparenz, die nach meiner Einschätzung viel ausgeprägter ist als bei den meisten Sinfonien Haydns. Die Transparenz verhindert zu viel Individualismus bei den Interpretationen. Hermann Bäumer und die NPW begannen vielleicht noch etwas gemäßigter als nötig, legten aber folglich eine hinreichend schnelle souveräne Auslegung hin, das Publikum begeisternd. Der Abend begann mit einem meiner bevorzugten Werke, nämlich Ravels "Le tombeau de Couperin". Besonders der erste Satz berührt mich stets sehr, wobei eine sinnvolle Akzentuierung hier das "A und O" ist. Die Sätze orientieren sich an barocken Tänzen und der Barockkomponist Couperin stand Pate mit seinen Tombeaux, klingenden Ehrenmälern - weil Ravel auch jeden Satz einem im Ersten Weltkrieg gefallenen Kameraden zueignete. Die Interpretation war sehr empathisch, wo nötig - also meistens in diesem Werk - und damit ausgezeichnet.

Das folgende "Concert champêtre" für Cembalo und Orchester hatte der bei uns viel zu wenig beachtete Francis Poulenc 1927/28 geschrieben. Es bezaubert durch das Wechselspiel des modernen Ensembles und einer virtuosen Einführung des Cembalo, wobei in der Technik zweifellos Anklänge an Couperin auszumachen sind, der Stil aber komplett verschieden und ein sehr erratischer, individueller Klang auf diese Weise erzeugt wurde, der als "Begleitmusik" einer hohen Moderne gelten mag. Christian Rieger führte meisterhaft filigran bis schwergängig - je nach Anforderung - seine Partien mit der verlangten Virtuosität und ohne übertriebene Affekte: wo etwas wie ein Uhrwerk klingen sollte, klang es so, mit verlangter Monotonie; dann war es wieder ein Höhen und Tiefen übergreifender Lauf usw. Als Clou spielte er als Zugabe ein Werk von Couperin selbst ("La Garnier"), so dass man sich vom Unterschied überzeugen konnte.
Strawinskys "Pulcinella"-Suite folgte nach der Pause. Acht meist kleine Sätze nach barocken Tänzen aus barocken Kompositionsvorlagen - aber ganz modern überarbeitet, erneuert, ergänzt... dabei Strawinskys eigenen neoklassischen Stil hervorbringend. Und interpretatorisch mit meisterlicher Leichtigkeit genommen... Insgesamt also ein echter "Gourmet"-Abend für alle Freunde klassischer Musik!