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Musikkritik: Utopien, Wünsche, gutes Leben für Alle - Reinhard Fehling und der Wille zur Gerechtigkeit

Geschrieben von Redaktion am . Veröffentlicht in Musik

RFehling 1022JPReinhard Fehling - Foto: Jörg Prochnow

von Dr. Götz Loos

Die Aufführungen von Reinhard Fehling und seinen "Letzten Heulern" sind immer ein Ereignis, das kann man ohne Übertreibung sagen. Ich wurde jedenfalls zuvor niemals enttäuscht. Allerdings heißt dies auch, dass man mit einer großen Erwartungshaltung dorthin geht - so wie am vergangenen Sonntag in die Konzertaula. Das Programm stand unter dem Titel "Wie wir leben wollen".

Doch der Titel ruft schon, ohne das Programm zu kennen, verschiedenste Assoziationen hervor - und lädt zum Interpretieren ein: Wer sind "wir"? Geht es offensichtlich um Elementares, das Leben, eher um Lebensstile, um Notwendigkeiten - so zu leben, wie es die Wirklichkeit es gebietet - oder sich bewusst gegen die bestehende Realität zu stellen? Zumindest gibt es einen Nachdruck - das "Wollen"; also scheint es doch darum zu gehen, sich gegen Bestehendes zu wenden - die "wir" wollen anders leben als es andere verursachen. So scheint es. Und dann die Frage: Utopie, Manifest oder lediglich ein Wunschtraum?

Reinhard Fehlings Textwahl ist stets sehr deutlich und weist ihn aus als progressiv und friedlich. Gerechtigkeit bis hin zu Gleichheit in den Lebensbedingungen liegen ihm am Herzen. Entrechtete, Verfolgte, von der Reaktion Ermordete lieferten ihm oft die Texte - hier aber sind es Lyriker, die ähnlich denken bzw. dachten wie er. Und so lag nichts näher, diese Gerechtigkeit und Gleichheit einfordernden Utopisten zur Grundlage zu nehmen, zumal sie auch fast stets explizit Frieden einfordern sowie gegen Armut und ungerechte Verteilung anschreiben. Nichts kann derzeit aktueller erscheinen.

Barbara Bluemel 1022JPBarbara Blümel - Foto: Jörg ProchnowAlso gab es ein entsprechendes Programm mit Kompositionen und Arrangements, vereinzelt auch Textanpassungen von Reinhard Fehling, unter seiner Leitung, mit seinem Chor "Die letzten Heuler" plus dem nicht minder bewährten Instrumentalensemble, der Combo "Die wilde 7". Sologesänge nahmen Leif Dryden, Karola Felstow, Malte Hinz, Doris Horn, Margita Oebbeke, Julia Treinies und Reinhard Fehling selbst vor. Barbara Blümel, ebenfalls bei Fehlings Aufführungen lange bewährt, übernahm die Rezitationen zwischen den musikalischen Werken, während Fehling mitunter als lockerer Conferenciér wirkte, jedenfalls Geschichtchen zu Kompositionen, Texten, Menschen - Nachdenkliches und Anekdotisches - brachte.

Das Programm startete - nach Rezitation von Barbara Blümel aus Brechts "Buckower Elegien" - mit vier Songs von drei Beatles (2x Lennon, McCartney, Harrison): "Because", "Blackbird", "Something", "Imagine". Also ein Start mit der Schönheit der Welt an sich, mit der Endlichkeit, mit der Liebe und schon einer zugespitzten Utopie der "einen" Welt. Beginnend mit einem rührenden Violinenintro von Freya Deiting in "Because", das insgesamt schwebend-sanft in dieser Bearbeitung war, über Sologesänge von Malte Hinz (stimmgewaltig in "Something") zu Karola Felstow und Julia Treinies (beide ohne Chor in "Imagine") wurde ein arrangementmäßig breiter Bogen gespannt. Der Kanon in "Blackbird" geriet dabei allerdings teilweise etwas zu schleppend.

Fehlings Spezialität, die auch hier in mehreren Stücken aufschien, ist die Verbindung des stampfenden Kampfliedrhythmus mit Elementen aus Blues und Swing und/oder Varieté und Jazz. Blues-Swing-mäßig entwickelt war "Rise like lions" aus Percy Bysshe Shelleys "The masks of anarchy", eine dichterische Reaktion auf das Manchester-Massaker von 1819. Nach ersten Versen a capella durch den Chor setzte die Combo ein, solistisch kam Malte Hinz zum Tragen. Der stakkatohafte marschierende Rhythmus gipfelt im "Aufbruch", symbolhaft vorscheinend durch die Trompete.

Ganz anders, choralhaft, das folgende Werk: Heinz Rudolf Ungers "In der Villa Farnesina oder: Herr Chigi und Herr Raffael", erstaunlich passgenau unterlegt auf Orlando di Lassos "Matona mia cara" - und beides sich in der Renaissance abspielend. Unter anderem kamen Techniken des Quodlibet zum Vorschein.

Freya Deiting1022JPFreya Deiting - Foto: Jörg ProchnowSofern nicht Reinhard Fehling erzählte, rezitierte Barbara Blümel zwischen den Stücken, meist Gedichte der Autoren, von denen nachfolgend Vertonungen zu hören waren. Besonders erwähnenswert erscheint mir hier Ungers "Kleine Demokratie", Kinderkrankheiten junger Demokratie benennend, die zu ausgewachsenen Lügen/Problemen werden können. Ungers "Lied der Spin-Doktoren" passte daraufhin freilich gut - die Meinungsmacher hervorragend karikierend, in Varieté-Jazz-Form, mit fünf der Solovortragenden (mit Hut und Sonnenbrille). Der Refrain war lieblich-säuselnd aufgearbeitet, geradezz einlullend. Der "Populismus-Aufbau" in der letzten Strophe hingegen wurde gesteigert vehement gegeben.

Und noch einmal Unger: "Unser Traum" - lang und zentral für das Programm. Jazz-Swing, teilweise dixie-artig, dabei beschwingt und leicht, durchgehend positiv (Endskalen der Verse stets aufwärts). Gesanglich wie instrumental lag die Emphase auf "das ist unser Traum". In acht Strophen wird die bessere Welt benannt und angesichts der realen Verhältnisse relativiert:
"Man wird doch wohl mal träumen dürfen...".

Thomas Braschs "Gute Nacht (Annas Abendlied)" wirkte dann wie eine Zäsur. Choralartiger Aufbau, aber der Chor dem Solosänger (hier Leif Dryden) folgend. Reinhard Fehling verband mit dem Gedicht und der Vertonung Persönliches, den Hut des verstorbenen Freundes tragend, als er davon erzählte - unter anderem, dass das Lied am Tag des Todes seines Freundes fertig geworden war. Tod und Ewigkeit, zur Ruhe kommen - breit in der Anlage, aber nicht trauernd, bis zur letzten Fermate positiv gestimmt.

Zwei Texte von Theodor Kramer folgten: "Es ist schön" und "Wenn du schon schläfst". Vor 27 Jahren fand die Uraufführung von Fehlings Kramer-Zyklus statt, die Werke sind aber nicht gealtert und entsprechen nach wie vor Reinhard Fehlings Kompositionslinien. Das erste Werk stammte musikalisch aus der Feder von Zupfgeigenhansel und wurde von Fehling arrangiert. Margita Oebbeke trat mit klarer, fester, tiefer angetönter Stimme als Solosängerin hervor; das Saxophon (Ralf Kiwit) verströmte ein wenig "Noir"-Stimmung. Beim zweiten Lied, das man dem akkustisch orientierten Singer-Songwriter-Teilrepertoire anschließen könnte, kam das Solo von Leif Dryden (ohne Chor) - sanft und zart in Allem, inklusive Solo und Begleitungen von Violine (Freya Deiting) und Akkordeon (Maik Hester).

Im Wechsel jeweils zwei Texte von Helmut Richter (weithin bekannt für den Text zum Song "Über sieben Brücken", er schuf aber sehr viel mehr!) und Heinz Rudolf Unger kamen als nächste zur Aufführung. Richters "Die Erbschaft" oder "Die Turmbauern von Babel", mit Sologesang von Reinhard Fehling, ist als Kampflied angelegt - Stakkato; dann jedoch, als der Turm bricht, das Niederbrechen vorübergehend nachzeichnend; wenn vom "Herrn" (Gott) die Rede ist, der Vortrag wie ein Accompagnato-Rezitativ; der Chor abschnittsweise mit stark wechselnder Dynamik. Insgesamt war das Werk sehr kantatenhaft angelegt und beeindruckte durch die Stilmittelwahl wie auch die äußerst professionelle Interpretationsweise.

Nach dem Rezitat von Ungers "Vagabunden" das Kurzgedicht bzw. die entsprechende Vertonung seiner "Nomaden" - mit starkem Forte beginnend, durch Unterbrechungen die angesprochene Vergänglichkeit illustrierend sowie vor allem der resümierende Vers "Durch all unser Besitztum gehn wir nur hindurch" durch die Männerstimmen der "Heuler" a capella besonders betont.

Sechs Zeilen aus Helmut Richters Gedicht "Erwartung" hatte Hanns Eisler in seine "Ernsten Gesänge" eingebaut, auf die Anspielungen auf Parteitage der KPdSU sei zum Nachlesen hingewiesen (würde hier Platz stehlen). Hämmernde Minimal Music war das kompositorische bzw. arrangierte Resultat - mit Solosängerin Doris Horn als pointiertem Mezzosopran.

Dann Ungers "Das letzte Lied": Wie ein Frühlingslied kam es leicht und mit schnellem Zweiviertel-Tempo daher, teilweise leuchteten barockmusikalische Strukturen durch (u.a. Triller, Triolen). Textlich wird gesagt, es soll ein Kampflied sein - jedoch war es bewusst leichter von Fehling gestaltet, der Text fordernd, aber auch die Stärke und Schönheit des zu singenden Liedes - wunderbar kompositorisch gelungen. Die letzte Strophe war dann auch die Zugabe.

Doch bevor diese erklang, standen noch zwei Vertonungen von Werken Louis Fürnbergs an (er war bereits vorher mit dem "Traumlegendchen" rezitiert worden und wurde auch hier nochmals rezitiert). Sein "Spruch" zielte auf emotionale Ehrlichkeit ab - die Musik an amerikanischen Folk erinnernd". "Jeder Traum" war dann gewiss das Resümee des Konzertabends: Jeder Traum lohnt sich, aus dem Traum kommt die Kraft zur Umgestaltung hin zur menschen(ge)rechten Welt und Wirklichkeit. Die Komposition strahlte mit hellen, optimistischen Farben. Reinhard Fehling kam nochmals als Solosänger hinzu. Der Chor war abschnittsweise geteilt, am Ende vielstimmig - ein grandioser Abschluss, auch sehr dynamisch.

Ja, sie ist etwas umfangreich geworden, diese Rezension. Aber diesen Abend genau hinzuhören, zu analysieren, zu bewerten war ein Genuss sondergleichen. Reinhard Fehling, "Die letzten Heuler" und "Die wilde 7" waren mehr als nur überzeugend. Es war ein stimmiger Abend, der sich in die Tradition herausragender Konzertabende genannter Protagonisten einreiht.

Fehring51022 JPFoto: Jörg Prochnow