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100 Jahre Sesekeregulierung

am . Veröffentlicht in Natur & Umwelt

von Klaus Holzer

KH1 Seseke FlachlandflussAbb. 1: Die Seseke, ein mäandrierender FlachlandflußIm September 2014 wurde die Renaturierung der Seseke abgeschlossen, 2018 bekommt Kamen seinen Sesekepark. Er gewinnt seine besondere Bedeutung dadurch, daß damit ein wesentlicher Teil von Kamens städtebaulicher Entwicklung abgeschlossen wird, nach der Neugestaltung des Bahnhofsgeländes im Süden und der Errichtung des Kamen Quadrat im Norden, auf dem Areal des ehemaligen Vogelhofs, nachdem Karstadt und Hertie an dieser Stelle scheiterten. Beide Bereiche sind funktionale Gebilde, Dienstleistungszentren, dienen der Mobilität mit dem ÖPNV und der Nahversorgung. Der Sesekepark ergänzt diese beiden Pole fast genau auf der Mitte zwischen ihnen und dient vor allem der Verschönerung der Stadt, der Erhöhung ihrer Lebensqualität, der Erholung ihrer Bürger. Doch schon vor rund 100 Jahren wurde die Seseke einer umfassenden Veränderung unterzogen und dabei auch an die Erholung der Kamener gedacht.

Ursprünglich war unser Flüßchen ein mäandrierender Flachlandfluß, dessen Fisch-, Krebs- und Muschelreichtum legendär war. Der große Stadtchronist Friedrich Pröbsting schreibt in seiner 1901 erschienenen Camener (bis 1903 mit C geschrieben) Chronik, daß er mit seinem Vater in seiner Kindheit, in den 1830er Jahren, „mehr als 100 Pfund Fische oder 100 - 200 Krebse an einem einzigen Tag aus der Seseke zog“, und daß im Jahre 1702 die Verpachtung der Fischereirechte der Stadt Kamen etwa 4% ihres Haushalts einbrachte. Der Fluß war also für viele Familien Grundlage der Ernährung und für die Stadt eine wesentliche Einnahmequelle. Und ab 1874 benutzte die Badegesellschaft „Flora“ die alte Seseke im Osten der Stadt als Kamens erste Badeanstalt. Einzig die regelmäßig wiederkehrenden Überschwemmungen trübten die Idylle.

Welchen Prüfungen die Kamener immer wieder ausgesetzt waren, zeigt Abb. 2 aus dem Jahre 1890 (bei der Angabe des genauen Termins differieren die Quellen), als dieses Flüßchen die ganze Innenstadt überschwemmte, selbst den Schützenplatz (heute Willy-Brandt-Platz) erreichte. (Das letzte Mal, das die Seseke solch ein verheerendes Hochwasser zeigte, war die erste Dezemberwoche 1960, als die Glückaufschule im Wasser stand und das Gymnasium den größten Teil seiner Biologie-Bestände verlor.) Halb stolz, halb bedauernd erwähnt die Kamener Zeitung 1915, daß „die am Rathaus angebrachten Marken beweisen“, wie sehr die Stadt unter dem Hochwasser zu leiden hatte, „deren höchste [zeigt] den Wasserstand vom November 1890 [an] und liegt „etwa 70 Zentimeter über der Straßenfahrbahn“. Doch hatten die Kamener sich damit arrangiert. Sie bauten ihre Fachwerkhäuser ohne Keller, dann konnten diese auch nicht vollaufen.

KH2 HochwasserAbb. 2: Das Hochwasser von 1890Die große Veränderung begann, als 1873 der Bergbau nach Kamen kam. Im Herbst 1905 leitete die Zeche Königsborn III/IV, Schacht Bönen, eine riesige Menge Ammoniak in den Fluß ein und vernichtete darin alles Leben (fast gleichzeitig geschah das gleiche mit der Körne durch eine Ammoniak-Einleitung der Zeche Courl). Die Märkische Zeitung schrieb im Oktober 1905 zu diesem Thema: „Unsere Sesike ist jetzt ein totes Wasser geworden, kein lebendes Wesen, weder Fisch noch Frosch, noch sonst ein Tierchen macht sich darin bemerkbar.“ Die Kamener nutzten aber die Gunst der Stunde und verfuhren ganz pragmatisch. Wieder die Märkische Zeitung: „ Viele Zentner der schönsten Fische aller Art, sowie Millionen kleiner Fische, der jungen Brut, bedeckten die Oberfläche des Wassers und wurden von zahllosen Fischliebhabern aufgefangen und als gute Beute heimgeholt.“

Allmählich entstanden Bergsenkungen, die Bäche veranlaßten, ihren Lauf zu ändern oder gar rückwärts zu fließen, in Mulden blieb Wasser stehen, verschmutzt durch Abwasser aus Häusern (es gab keine Kanalisation) und herumliegenden Unrat (es gab keine Müllentsorgung und keine Müllkippen, entweder blieb er einfach liegen oder er wurde im Fluß entsorgt: aus den Augen, aus dem Sinn). Und überall darin Kinder, barfuß. Es konnte also jederzeit zum Ausbruch von Seuchen kommen, war doch auch die medizinische Versorgung aus heutiger Sicht völlig unzureichend.

KH3 BetonsohlschaleAbb. 3: BetonsohlschaleVon nun an war jedes Hochwasser mit weiteren gesundheitlichen Gefahren verbunden. Es mußte dringend etwas geschehen. So gründete sich am 4. April 1914 die Seseke-Genossenschaft, deren erklärtes Ziel es war, den Fluß zu regulieren: Wenn stehendes Wasser zu Seuchen führen konnte, mußte dafür gesorgt werden, daß es so schnell wie möglich abfloß. Daher erschien es zweckmäßig, den Fluß in sogenannte Betonsohlschalen zu legen, und zwar über gute 20 km von Bönen bis zur Mündung in die Lippe in Lünen.

Und gleichzeitig sollte mit dem Bau der Kamener Kanalisation begonnen werden. Die Begründung formuliert die Kamener Zeitung vom 24. April 1915 so: „ Kommt ein Gast per Bahn nach Kamen und geht die Bahnhofstraße entlang, so gibt Kamen hier die denkbar schlechteste Visitenkarte ab. Auf dem Stück zwischen der Bahn und der Stelle, wo heute das Rathaus steht, liegen Fäkalien, Müll und allerlei Unrat zuhauf auf und neben der Straße, übler Gestank verpestet die Luft, der Anblick wird den Gast zur sofortigen Umkehr veranlassen. Und was sich dort an Krankheitskeimen tummelt, ist nur zu vermuten“. Daher war es unbedingt notwendig, in Kamen eine Kanalisation zu bauen.

KH4 DammbruchAbb. 4: Dammbruch im Mühlenkolk, 1923Allerdings glaubte man, alle Hoffnung auf baldigen Baubeginn begraben zu müssen, da im Sommer 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach. Dann half ausgerechnet dieser Kriegsbeginn den Kamenern, weil bereits die ersten französischen Kriegsgefangenen schon im August zur Zwangsarbeit im Mersch eingesetzt wurden. Doch ging es nicht immer so glatt weiter, obgleich Kamen, wie andere Kommunen auch, ab Mitte der 1920er Jahre stark von den gleich nach dem Krieg eingeführten Gesetzen zur Unterstützung der großen Zahl arbeitsloser Heimkehrer und Arbeitslosen profitierte. Für solche „kommunale Notstandsarbeiten“ genannten Einsätze brauchte die Stadt nur ein Sechstel der ortsüblichen Löhne selber zu tragen, was der 1925 nach Kamen gekommene neue Stadtbaurat Gustav Reich konsequent ausnutzte.

Dennoch dauerte es immerhin noch acht Jahre, bis auch der Mühlenkolk oberhalb der Maibrücke, der immer eine Schwachstelle gewesen war, durch den die Hochwasser die Stadt gefährdeten, zugeschüttet werden konnte. Hierzu die Kamener Zeitung vom 20. Dezember 1923: „Im Mühlenkolk kann Schutt abgeladen werden. Diese Nachricht wird manchen Bürger, der nicht weiß, wohin mit der Asche, erfreuen. Wir glauben, daß der Kolk auf schnelle und für die Stadt billige Art zugeschüttet sein wird.“ Ein Weihnachtsgeschenk an die Kamener, schließlich hatte jeder Haushalt mindestens einen, meist mehrere Kohleöfen in der Wohnung. Und der Gedanke, daß Kohleasche später eine Altlast sein würde, war noch nicht in der Welt.

KH5 Koppelteich SesekeAbb. 5: Arbeiter beim Umau der Seseke zu einem Abwasserkanal

KH6 Adener MuhleAbb. 6: Adener MühleSo sehr der Umbau für die meisten ein Segen war, es entstanden auch neue Probleme:
sollte die Kanalisation funktionieren, mußte das Flußbett ca. 2½ m tiefer gelegt werden, das bedeutete weitere Verzögerung bei ihrem Bau. Noch in den 1950er Jahren gab es stellenweise im Stadtgebiet Sickergruben;
die Seseke ist ein Nebenfluß der Lippe, nur einen Fluß isoliert abzusenken, geht deshalb nicht, man muß an das ganze Flußsystem herangehen. Daher schloß sich die Seseke-Genossenschaft dem am 19. Januar 1926 gegründeten Lippeverband an;
die Seseke mußte über große Strecken in ein neues Bett verlegt werden, das bedeutete, daß den Anrainermühlen ihre Existenzgrundlage entzogen werden würde: der Böingschen Mühle, der Adener Mühle. Manche Müller versuchten, dennoch weiter zu arbeiten: die Mühle Ruckebier in Kamen war bereits 1906 auf eine Turbine umgestiegen und konnte noch ein halbes Jahrhundert weiterarbeiten; die Berger Mühle an der Körne in Südkamen erwog kurz die Umstellung auf Windkraft, gab aber noch vor einem Umbau auf; die Hilsingsmühle versuchte es mit einem elektrisch betriebenen Mahlwerk, doch erwies sich dieses nach wenigen Jahrzehnten als unwirtschaftlich. Keine Mühle an Seseke und Körne mehr – sicherlich ein Verlust.

Das Unternehmen Sesekeregulierung war aus der Not geboren und verlangte allen Beteiligten viel ab, Geduld, Geld, Planung, Unbequemlichkeiten. Aber selbst für das Schöne hatte man etwas übrig, sah, daß das Nützliche mit dem Angenehmen verbunden gehört, wenn das Erstere Akzeptanz finden soll. Man legte in Kamen eine Seseke-Promenade an, wieder als Notstandsarbeit, mit „schönen Anlagen, wie Ruhebänken, Wandelhalle, Kinderspielplätzen mit Sandkästen“. Dabei handelte es sich um das Stückchen Weg rechts der Seseke, zwischen Mai- und Vinckebrücke, von den Gästeführern wegen der früher hier angesiedelten Seilerei Overmann heute „Reeperbahn“ genannt. Auf diesem Weg gab es die nach allen Seiten offene Halle eben dieser Seilerei Overmann, die als Wandelhalle integriert wurde. Diese sollte auch Pausenhalle für die Kinder der nahen Schulen sein, in ihrer Nähe wurden Bänke für Spaziergänger aufgestellt. Später, so sahen es die Pläne vor, sollte diese Promenade bis zur 1924 fertiggestellten Rathenaustraße (heute Koppelstraße) weitergeführt werden, eine Anbindung schaffen zwischen der Stadt und den bereits vorhandenen Grünanlagen um den Koppelteich herum, wozu es aber offenbar nicht mehr kam (Zitate aus der Kamener Zeitung vom 11. und 31. 8. 1931).

KH7 Seilerei OvermannAbb. 7: Hier wurde die „Wandelhalle“ angelegt; im Hintergrund die Halle der Seilerei Overmann.Unser Sesekepark hatte also schon so eine Art Vorläufer, wenngleich bedeutend bescheidener, aber doch auf die ganz anderen, viel bescheideneren Bedürfnisse der Menschen damals zugeschnitten: eine Promenade, eine Wandelhalle, ein paar Bänke, das war’s.

Wer noch in Erinnerung hat, wie die Seseke vor ihrer Renaturierung aussah, wie sie als offene Kloake schnurgerade durch die Gegend floß, wie sie in einem Sommer wie diesem, heiß und trocken, stank, der wird den Kopf schütteln über die Freude, die der Autor eines Artikels in der Märkischen Zeitung vom 6. Januar 1936 zum Ausdruck bringt: „ Anstelle der vielen Windungen und Krümmungen, die wohl für den Romantiker, aber nicht für den Bauer (sic) Interesse haben, geht jetzt der Bach in fast gerader Linie durch die Landschaft.“ Wie sich die Zeiten ändern!

Seien wir froh, daß wir ein Stück (kultivierter) Natur zurückgewonnen haben, an dem die Kamener hoffentlich noch lange Freude haben werden.

Eine ausführliche Version dieses Artikels finden Sie unter www.kulturkreiskamen.de

Abb.: 1,2,4,5: Stadtarchiv Kamen; 3: Photo Klaus Holzer; 6: Stadtarchiv Bergkamen; 7: Familie Späh