von Dr. Götz Loos
Kamen. Wo die Grenzen der klassischen Musik sind, die Grenzen zwischen U- und E-Musik, ob man Stile gegeneinander abgrenzen sollte oder der Vermischung die Tore weit geöffnet werden - darüber ist mannigfaltig diskutiert worden. Und diese Thematik schien auch im Einführungsvortrag Roland Vespers zum letzten, dem 9. Konzert der Sinfonischen Reihe am Mittwochabend in der Konzertaula wieder einmal auf.
Tatsächlich war dieses Konzert etwas Besonderes, weil es eben alle Grenzen überschritt. Und das war die besondere Würze dabei. Hauptakteur war dieses Mal nicht die Neue Philharmonie Westfalen unter Rasmus Baumann, auch wenn sie nicht zu kurz kamen. Jedoch stand im Vordergrund "Uwaga!" (polnisch, = Achtung) - ein Quintett, eine Band, ein Ensemble, stehend für grenzenlosen Crossover (Näheres zur Band unter https://www.uwagaquartett.de, hinzu kommt Percussionist Philipp Zdebel). Gipsy-Funkpop, so kann man es kurz sagen, ist die dominierende Richtung, der Ausgangspunkt ist aber stets klassische Musik. Und dann wird variiert sowie reichlich improvisiert - sprich: Vieles von dem, was zu hören war, ist nirgendwo notenmäßig festgehalten.
Das erste Werk war jedoch noch rein orchesterorientiert: Die "Kleine Nichtmusik" des Musik-Komikers Peter Schickele, der 1. Satz. Über die originale Komposition von Mozarts "Kleiner Nachtmusik" als Streicherserenade legten die Bläser diverse andere, angepasste und passende Melodieanspielungen, u.a. aus Dvořáks "Neuer Welt" etc. Spaßig - und für die NPW eine problemlose, gewohnt hervorragende Leistung.
Dann kamen "Uwaga!" und bewiesen neben musikalischer Virtuosität in Vollendung (dies als Resümeé vorweg) bei der Moderation von Anfang bis Ende beste und anspruchsreiche Comedian-Qualitäten. Musikalisch starteten sie mit Mozarts "Reggae-Violinkonzert", denn Mozart traf auf Jamaika Bob Marley, so Uwaga! - und das hatte kompositorische Folgen. Jedenfalls wurde Mozart mit Marleys "No Woman, No Cry" verbunden - und es passte, zumal der Grundrhythmus in der Tat ein Reggae-Rhythmus war.
Ein ganz anderes Arrangement hatte das Quintett dann für Charlie Puths "Attention" parat. Dieser bekannte Song wurde trotz seiner pop-charakteristischen Themen durch gute Instrumentierung herausragend "klassifiziert" und mit Balkanmusik-Variationen gleich nach mehreren Richtungen hin variiert. Sehr ansprechend.
Doch Mozart sollte titelgemäß Schwerpunkt sein, also hin zur "Zauberflöte" (Ouvertüre und Thema), aus welcher dann eine "Zauberbratsche" wurde, die Christoph König spielte, natürlich mit humoristischer Hintergrundgeschichte. Die Variationen waren dermaßen ausufernd und abdriftend, dass am Ende die Originalmelodie allenfalls noch zu erahnen war. Ganz ehrlich, für mich zehnmal besser als Mozart!
Von Mozart dann zu Johann Sebastian Bach: Das Doppelkonzert war freilich für die beiden Violinisten Christoph König und Maurice Maurer wie geschaffen - nur würde eine Gypsy-Swing-Version angekündigt. Das Orchester brachte auch passagenweise das Original, jedoch führten Uwaga! es in die angekündigten Gefilde. Und mehr noch: Die Melodiestränge wurden verknüpft und entwickelt zu den "Zwei Gitarren". Am Ende stand ein ziemlich wilder Csárdás, beeindruckend gemeistert von NPW und Uwaga!
Nach der Pause erst einmal Beethoven: "Für Elise" - in Swing verpackt, nein: als echter Swing, fast bigbandesk. Daraus wurde ein Walzer melancholischer bis tragischer Sorte, der am Ende fast zum "Danse Macabre" wurde. Fantastisch, was man aus dieser bekannten Klavierübung herausholen kann! Und in der Interpretation keine Fragen offen belassend! Mitreißend, wohlklingend, wohlswingend...
Dann zurück zu Mozart, der von Jamaika dann schließlich auf den Balkan weiterreiste. Eine Klaviersonate kam dabei heraus (KV 331), die merkwürdigerweiae für 2 Violinen etc. geschrieben wurde, wie Uwaga! betonte... Jedenfalls durch und durch balkanisch variiert - und, wie ich meine, wiederum interessanter als das Original.
Zweimal Beethoven noch; zwei langsame Sätze, sollte man - so Uwaga! - sollte man nicht hintereinander spielen --- Machten sie doch, natürlich verändert. So wurde aus der Cavatina aus dem Streichquartett Nr. 13 ein belebter Reigen. Und das danach gespielte "Allegretto" aus der 7. Sinfonie (der beliebte, zutiefst melancholische zweite Satz) war kaum wiederzuerkennen, nicht zuletzt wegen des hohen Tempos - von Wegen langsam...
Wenn ich bis dahin einen Gesamteindruck festlegen mochte: Viele der variierten Werke bzw. Werkteile hatten mit dem Original nur noch entfernt etwas zu tun. Ein guter Beweis dafür, dass man nicht langweilig "covern" muss, sondern mit eigenen Ideen Variationen erzeugen kann, die ganz immens anders und doch gut sein können. Und auch wenn Elemente diverser Stilrichtungen, oft mit mehr oder weniger ausgeprägten Techniken der Balkanmusik, aber auch anderer Folk, Swing, Reggae usw. die Basis bilden, so kam man doch immer wieder zu klassischen Ausprägungen zurück, nicht zuletzt durch die Orchesterpassagen. Uwaga! bewiesen in höchster Qualität, dass Variationen oder Umvertonungen bei Versetzungen von Stilen nicht zu kitschigem Abgeschmack führen muss. Im Gegenteil: Sie sind die Meister der Grenzenlosigkeit - und letztlich doch zutiefst der klassischen Musik verbunden.
So war klar, dass das Abschlusswerk, von Christoph König eigens komponiert, "This is a not a Schlager" heißen musste - ein Spektrum an Stilen, wiederum eingebettet in das, was man klassische Musik nennt.
Somit: Nicht nur ein höchst vergnüglicher, sondern ein lehrreicher Abend.